Ein hochwertiger, gebundener Band im Großformat sammelt die komplette Adaption des ersten „Oz“-Romans in Comicform. Mit einem umfangreichen Bonusteil mit vielen Skizzen und Erläuterungen, einem exklusiven Vorwort von Zeichner Skottie Young für die deutsche Ausgabe und einer Einführung von Alexander Bubenheimer, die nachfolgend ungekürzt wiedergegeben ist:
Das smaragdgrüne Oz und seine deutschen Leser
In einer Zeitspanne von nur fünfzehn Jahren entstanden zum Ende des 19. Jahrhunderts zwei zeitlose Klassiker der Kinderliteratur, die bis heute den Kanon der amerikanischen Lieblingsbücher anführen: Huckleberry Finn von Mark Twain und Lyman Frank Baums Wizard of Oz. Beide haben mehr gemein, als es auf den ersten Blick scheint – hinter der Fassade des (kindgerechten) Abenteuers verbergen sich System- und Gesellschaftskritik, aber vor allem wurden sie von zahllosen Verlegern weltweit „noch kindgerechter“ zurechtgestutzt und verstümmelt. Die Wiederentdeckung der originalen Texte lohnt sich ungemein, insbesondere beim Zauberer von Oz, auch um die im kollektiven Gedächtnis verankerten Bilder und Handlungsstränge zu ergänzen, für die Hollywood verantwortlich zeichnet, das in seinem goldensten Jahr 1939 einen grandiosen und mit zwei Oscars ausgezeichneten Musicalfilm mit Judy Garland auf die Leinwände schickte (über den Flop von Diana Ross und Michael Jackson Jahrzehnte später sollte dagegen besser der Mantel des Schweigens gebreitet werden). Interessant ist aber auch der Unterschied in Themen, Sprache und Gesellschaftsdenken zum anderen großen eskapistischen Kinderklassikers jener Tage, des fünfunddreißig Jahre älteren Alice im Wunderland. Die Unterschiede zwischen britischer und amerikanischer Mentalität sind kaum einfacher herauszustellen als im direkten Vergleich dieser Werke aus der oberen britischen Mittelschicht und dem bodenständigen amerikanischen Urvertrauen in die eigene Schaffenskraft.
Der Zauberer von Oz (The Wonderful Wizard of Oz) wurde 1900 von L. Frank Baum geschrieben und graphisch von W.W.Denslow ergänzt, dessen herausragende Illustrationen auch heute noch wunderschön anzuschauen sind. Die Popularität von Dorothy, dem kleinen Mädchen aus Kansas, das im fremden Land Oz mit der Vogelscheuche ohne Verstand, dem Blechmann ohne Herz und dem feigen Löwen ein fantastisches Abenteuer erlebt und die böse Hexe des Westens besiegen muß, um vom mächtigen Zauberer Oz Hilfe für den Heimweg zu bekommen, kannte schnell keine Grenzen mehr. Baum selbst schrieb zwei Jahre später eine musikalische Bühnenfassung, die zuerst am Broadway und dann im ganzen Land ein sensationeller Erfolg wurde. An eine Fortsetzung des Romans hatte er allerdings nicht gedacht, doch die überwältigende Resonanz von Kindern aus dem ganzen Land, die ihn mit Bittbriefen überschütteten, sorgte letztlich für ein Umdenken Baums. Zuerst kehrte er 1904 mit Das erstaunliche Land Oz (The Marvelous Land of Oz) nach Oz zurück, ab 1907 folgte dann fast jährlich bis zu seinem Tod Roman auf Roman, insgesamt vierzehn an der Zahl (aufgrund des Zerwürfnisses zwischen Baum und Denslow alle solide illustriert von John R.Neill). Nach seinem Tod 1919 beauftragte der amerikanische Verleger die Autorin Ruth Plumly Thompson, die Oz-Reihe fortzuführen. In der bewährten Unterstützung des Illustrators Neill schuf Thompson im jährlichen Rhythmus weitere neunzehn Romane. Neill selbst verfasste dann drei zusätzliche Romane, gefolgt von anderen Autoren. Wie sehr Oz auch heute noch smaragden schimmert, zeigt der Erfolg der „Wicked“-Romane und des gleichnamigen Musicals, nun gänzlich an ein erwachsenes Publikum gerichtet.
Während in Amerika jedes Kind Oz und seine Charaktere kennt, ist hierzulande die Oz-Welt im Vergleich beispielsweise zu Mark Twain fast nur über die musikalischen Versionen (des Films von 1939 als auch der aktuellen Musicals) verbreitet. Bezeichnend ist, dass gerade einmal sieben (!) Romane den Weg in die deutsche Sprache fanden – bei verschiedenen Verlagen, über die lange Zeitspanne hinweg. Ständig lieferbar ist einzig der erste Band, Titelgeber des auch bei uns bekannten und beliebten Filmes, der immer wieder in neuen Fassungen erscheint, von verschiedenen Illustratoren mehr oder weniger gelungen bearbeitet und textlich mehr oder weniger frei adaptiert, wobei auch gern ganze Handlungsstränge ausgeklammert werden, widersinnigerweise auch gerne deshalb, um möglichst dicht an der Filmhandlung zu bleiben. Auch politische Anspielungen auf der Sub-Ebene treten dabei meist gänzlich hinter die reine Abenteuerhandlung zurück (wobei die Literaturwissenschaftler bis heute darüber streiten, was davon wirklich von Baum beabsichtigt war). Eine Ausnahme ist erstaunlicherweise die ehemalige DDR. Die freie Bearbeitung des ersten Romans durch den Russen Alexander Volkov erfreute sich unter dem Titel Der Zauberer der Smaragdenstadt hoher Beliebtheit und war nahezu die ganze Staatsgeschichte über durchgehend verfügbar. Der Erfolg in der Sowjetunion und anderen Ostblockstaaten veranlasste den Schriftsteller dazu, sich eigenständig fünf weitere Geschichten auszudenken, die die Beliebtheit der nun als Zauberland bekannten Serie weiter antrieb.
Es ist endlich an der Zeit, Oz neu zu entdecken. Zurück zur Wurzel zu gehen, die Verfremdungen abzuschütteln und falsche Patina abzustauben. Es ist an der Zeit, Oz als das magische Land zu erleben, in dem alles möglich und alles anders ist, als es zuerst scheint. Ausgerechnet mit einer weiteren Adaption der Romane in ein anderes Medium gelingt dies auf überzeugende Weise. Die Illustrationen waren immer ein wichtiger Bestandteil der originalen Romane – aber Skottie Young, ein junger amerikanischer Künstler, erschafft in der vorliegenden Graphic Novel im Medium des Comics ein Oz, das lebt, springt, tanzt, grummelt, droht, ironisiert, lockt und lacht in einer lange vermissten, warmen Skurrilität, in einer engen, wichtigen Verbindung mit der Farbgebung von Jean-Francois Beaulieu, die alle Aspekte der Charakterzeichnung unterstützt und fortführt. Die kauzigen Charaktere beben vor spontaner Lebenskraft, filigran und vordergründig leicht von der Feder fließend, und das Land Oz selbst erblüht zu einer greifbaren Welt, die in ihrer völligen Irrealität doch so real wirkt und uns einlädt, zuerst als Spaziergänger den Abenteuern beizuwohnen und anschließend unsere eigenen Phantasien anzufachen.
Die neuen Graphic Novels, die eng an Baums Ideen und Werken entlang Roman für Roman adaptieren und dennoch eine überzeugende eigenständige künstlerische Leistung offenbaren, sind kein weiteres Mosaiksteinchen im Oz-Kosmos, sie sind das neue Oz.
Aber wer sind diese Künstler, die sich so gut in Oz hineindenken können? Der für einen Comic über den Trojanischen Krieg mit dem Eisner-Award ausgezeichnete Künstler Eric James Shanower, geboren im Jahr 1968, ist ein ausgewiesener Oz-Experte und seit 1986 mit der Adaption von Oz in Comicform beschäftigt, als Autor und Zeichner seiner eigenen Serie. Er erweiterte das fantastische Land zudem auch als Kinderbuchautor. In der Zusammenarbeit mit Skottie Young, der 1978 das Licht der Welt erblickte, verfasst er nun die Skripte und Dialoge in der chronologischen Umsetzung der originalen Geschichten von L. Frank Baum, während Young mit seinem sprühenden Stil in der Changierung zwischen Cartoon und klassischer Illustration für die Zeichnungen verantwortlich ist. Es verwundert nicht, daß eine solch qualitativ herausragende Inszenierung viele Preise erhält. Manchmal setzt sich Qualität eben doch durch, wie sich unter anderem mit zwei Eisner Awards für Der Zauberer von Oz („Beste Veröffentlichung für Kinder“ und „Beste Kurzserie“) und zwei weiteren Eisner Awards für Das erstaunliche Land Oz („Beste Adaption“ und „Bester Zeichner“) gezeigt hat.
Wir wünschen der deutschen Fassung dieser Graphic Novel allen erdenklichen Erfolg – vielleicht befeuert vom angekündigten neuen großen Disney-Film, der sich auf die Vorgeschichte rund um die Ankunft des Zauberers in Oz drehen soll. Die Folgebände warten schließlich bereits sehnsüchtig darauf, ihre magischen Geschichten auch für deutsche Leser zu enthüllen. Viele Charaktere, die hierzulande unbekannt sind, lugen zwischen den Seiten hervor und entbieten ihren Gruß: Hexe Mombi, Jack Kürbiskopf, das Huhn Billina, der mechanische Tick-Tock, der Nornenkönig, Prinzessin Ozma und der Zottelmann.
Neben dem Zauberer von Oz liegen im amerikanischen Original bereits die Adaptionen des zweiten bis vierten Romans Das erstaunliche Land Oz, Ozma von Oz und Dorothy und der Zauberer in Oz vollständig vor. Zum Zeitpunkt dieser Einführung hat das kongeniale Team Shanower/Young bereits mit den Arbeiten am fünften Buch begonnen. Neun weitere Romane von L. Frank Baum könnten dann noch folgen – angesichts des hohen Niveaus dieser Comicreihe ist es uns als Lesern so sehr zu gönnen, dass sich die beiden Künstler in den nächsten Jahren dieser umfangreichen Aufgabe annehmen.
Lang lebe Oz!