„33 Jahre, nachdem Albert Steffens zweiter Jugendroman ‚Die Bestimmung der Roheit‘ erschienen war, überrascht uns der Verlag für Schöne Wissenschaften mit einer Neuausgabe dieses lange Jahre vergriffenen Werkes. Als das Buch, dessen Grundthema die Frage nach dem Sinn des Bösen in der Welt ist, im Jahre 1912 herauskam, war es eine Tat. Resolut setzte sich der damals 27jährige Dichter über alle für die Prosadichtung geltenden „Gesetze“ hinweg, um völlig eigene und neue Wege zu beschreiten. Er begnügte sich nicht mehr damit, die sinnliche Wirklichkeit widerzuspiegeln und mit den Mitteln der Dichtkunst zu intensivieren. Mit einer Selbstverständlichkeit, die heute noch Bewunderung abnötigt, stellte er die höhere Realität der geistigen Welt entgegen. Das war ein unerhörtes Ereignis. Während die übrige Literatur in Materialismus und Intellektualismus versandete, stand da plötzlich einer auf, für den das diesseitige Treiben nur mehr eine Art Gleichnis war und der mit der Welt des Geistes bedingungslos Ernst machte. Der sich in dieser Welt so sicher bewegte und sie so konkret darzustellen verstand, wie man es nur für die physische Welt für möglich gehalten hatte.
Nicht daß der junge Dichter vor den Tatsachen der Außenwelt die Augen verschlossen und sich in eine Traumland geflüchtet hätte. Davon kann keine Rede sein. Man kann das Gemeine nicht aus der Welt schaffen, indem man es ignoriert. Aber zu der Welt des Verbrechens und der Prostitution neigt sich die Welt des Heiligen, gemäß dem ‚Weltgesetz, daß der Verbrecher dem Heiligen begegnen muß, damit der Heilige die Vollendung erfüllt‘. Dem Bösen, das nur negativ zu sein schien, war auf einmal im großen Haushalt der Schöpfung eine ganz bestimmte Funktion zugewiesen. Aber es übt sie nicht automatisch aus im Sinne eines Mechanismus. Nur die freiwillige Solidarität des Schuldlosen mit dem Schuldigen, die verzeihende Liebe führt den Rohen zur Erkenntnis und Überwindung der Roheit. Denn ’nichts ist auf der Welt, das nicht seinen Urgrund in einer Eigenschaft der Seele hätte. Nicht die Einrichtung muß geändert werden, sondern die Menschen. Und da muß jeder bei sich selber anfangen.‘
Wer Albert Steffens seitheriges Lebenswerk kennt, weiß, daß er es nicht bei der ‚Bestimmung der Roheit‘ bewenden ließ, die bereits die wesentlichen Elemente seiner künftigen Entwicklung vorwegnahm. Unbeirrbar ist er seither den damals eingeschlagenen Weg weitergeschritten. Auf der andern Seite hat aber auch die menschliche Entartung – Auschwitz, Buchenwald – seit 1912 noch unglaubliche Fortschritte gemacht. Darum ist die ‚Bestimmung der Roheit‘, die nichts von ihrem ursprünglichen Goldglanz verloren hat, trotz allem, was seither in der gleichen Richtung getan worden ist, ein sehr aktuelles Buch geblieben. Und auch darin ist sie sich gleich geblieben, daß sie den innersten Menschen in einer fast magisch zu nennenden Art anspricht und aufrichtet und ihm das Vertrauen in die geistige Weltordnung wieder zurückgibt. Wie übrigens von allen Steffenbüchern, geht auch von diesem eine umgestaltende, heilende und segnende Kraft aus, deren eigentlicher Ursprung des Dichters schwer zu ergründendes Geheimnis ist. Darum ist es ein Buch, das man nicht liest und beiseite stellt, sondern mit dem man zusammenleben möchte.“ („Schaffhauser Nachrichten“, vom 16. Juli 1945, Nr. 164)
- Veröffentlicht am Donnerstag 7. November 1985 von Schöne Wissenschaften
- ISBN: 9783858891181
- 226 Seiten
- Genre: Belletristik, Erzählende Literatur