Die Richter des jüngsten Gerichtes

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Doğan Akhanlı knüpft an die von E. Hilsenrath für das Erzählen über den Genozid eingeführten Verfahren an und entwickelt sie entsprechend seinen literarischen Bedürfnissen weiter. Ein „Zeitreisender“, der weise Ümit Bey aus Izmir, steht im Zentrum. Zu den Zeitsprüngen kommen verschiedene Identitätswechsel: Ümit erlebt sich zeitweise als Armenier und Angehöriger der Opfer. Solche gegen den main stream offiziellen türkischen Selbstverständnisses gezeichneten und daher verwirrenden Perspektivwechsel und Metamorphosen entsprechen der Aussage der Trilogie „Die verschwundenen Meere“ („Kayıp Denizler“), die der Generation des Autors zugefügten Leiden in den größeren Kontext einer seit langem andauernden, weil unbewältigten Gewalt zu stellen. Zugleich fordern Ümit Beys Identitätswechsel, aber auch die Schicksalsläufe einiger armenischer Protagonisten das Selbstverständnis einer Ge-sellschaft heraus, die sich nie in vollem Umfang ihrer nationalen Vergangenheit und noch nicht allzu weit entfernten Präsenz der Opfer bewusst werden konnte.
Akhanlıs Roman besticht besonders durch seine Metaphorik sowie eine starke Eindringlichkeit und originelle Bilder bei den Landschafts- und Milieuschilderungen. Dazu gehören auch die der muslimischen Überlieferung entlehnten Vorstellungen des Jüngsten Gerichts, das Bild vom Schwarzen Loch als Metapher für die amtlich verordnete Geschichtsverdrängung in der Türkei sowie die fiktive Ortschaft Uvanis, in der Menschen unterschiedlichen Glaubens und kultureller Traditionen nebeneinander, wenn nicht gar miteinander leben. Uvanis und seine schicksalhaft miteinander verbundenen muslimischen wie christlichen Einwohner verkörpern einen ethnischen und kulturellen Pluralismus, den der Autor als einzige Rettung vor dem vernichtenden Urteil der Völkermordopfer als „Richter des Jüngsten Gerichts“ bezeichnet. Schon Werfel und Hilsenrath hatten die Frage nach dem Gottesurteil gestellt. Kann Gott die Massenvernichtung zulassen, ohne einzugreifen? Und falls ja: Was für ein Gott wäre das dann? Akhanlı greift die Frage erneut auf. Auch sein Gott, der Gott aller Menschen, greift nicht rettend ein, setzt aber die Opfer als Richter ein. Es gelang ihm, verleugnete historische Wahrheiten durch den Einsatz bestimmter literarischer Verfahren gegenwärtig zu machen, ohne der Gefahr bloßer Nacherzählung zu verfallen. Viele Angehörige dieser politisch und gesellschaftlich aktiven Generation sind buchstäblich verschwunden – mit und ohne Verhaf-tungsbefehl. Mit ihnen, so legt es der Titel der Trilogie nahe, verschwanden die Horizonte und des Landes, änderte sich unwiderruflich die politische Topographie der Türkei. Er fragt nach den Ursprüngen der manifesten Gewalt, die seither die Verhältnisse jenes Landes prägt. Akhanli entdeckt sie in der Verfolgung und Vernichtung der armenischen Bürger des Osmanischen Reiches, die im Ersten Weltkrieg in einen regelrechten Genozid mit anderthalb Millionen Opfern mündete.