DIE SONNE BRINGT ES AN DEN TAG

LE SOLEIL LE TIRE AU CLAIR

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Das Fest der Gegenwart
Zu den Lochbildern von Hanns Zischler

War ich letztes Jahr anwesend auf diesem Planeten? Gestern? Atmete ich in Gesellschaft der Dinge? Hanns Zischlers Lochbilder eröffnen mir: Es kostet Zeit, diese Frage zu ertragen. Noch mehr Zeit kostet es mich, sie bejahen zu dürfen. Inmitten computeranimierter, fingerfertiger und ausgedruckter Umwelten ist Anwesenheit ein unwahrscheinlicher, entlegener Zustand. Ich bereite ihn vor, indem ich menschenleere Fluren betrachte und mich übe, sie auszuhalten. Nur eine Welt, der meiner nicht bedarf, gewährt mir Gegenwart. Ich muss mich sammeln, muss mich davonmachen und draußen bleiben, statt aus der Distanz erst recht Kontrolle auszuüben. Der Lochbildfotograf ist so frei, auf einen Sucher zu verzichten. Er ist eher ein Hinsteller und Empfänger. Zwar wählt er ein Blickfeld, doch er tut es, damit dort etwas geschieht, das er nicht steuern kann. Er beschwört eine Fügung herauf. Die Perspektive zu finden und die Rigby-Lochkamera mit Hilfe von Stativ und Wasserwaage auszurichten, das dauert schon eine Weile. Die Bilderzeugung selbst beansprucht ebenfalls Zeit. Nach zwei Minuten oder gar nach zwei Stunden Belichtung entsteht ohne Zutun des Fotografen ein erleuchtetes Stück Natur. An einer weitgehend unbewegten Landschaft oder Fassade (bevorzugten Gegenständen der Daguerreotypien) arbeiten die bewegten Elemente Wind, Wolke und Wasser. Die Pflanzen, Wiesen, Flüsse, Lüfte und Himmel sättigen sich an der Zeit. Wie auf der Netzhaut eines Wesens, das hundert Mal langsamer blickt und wahrnimmt als der Mensch, wird auf dem Hochleistungs-Negativ ein Genius loci in seiner verborgenen Farbenpracht sichtbar. Der Entwickler entscheidet, wie viele Farben, Schattierungen und Helligkeitsstufen aus der chemischen Oberfläche des Planfilms herausgeholt werden. Nur darin besteht seine Willkür. Er gibt nichts hinzu. In den Prozessen der Lochbild-Fotografie birgt der Entwickler eine entrückte Wirklichkeit, den Abdruck eines Stücks reiner Dauer. Ihm widerfährt diese Wirklichkeit, und er wiederum regelt ihre Farbigkeit und Leuchtkraft. Er begegnet der Synopse eines zweckfreien Geschehens. Ähnliches erlebe ich, wenn ich den Blick meiner Katze (vollständig mein, vollständig fremd) erhasche, nachdem sie durch das Gelände gestrolcht ist, und mich frage, was dieser Blick erfasst hat. Allerdings blickt die Katze selektiv, und ich bekomme keine Antwort. Die Lochbildtechnik gibt mir die Antwort, ohne dass ich sie vollständig begreife.
Traum von einer passiven Fotografie, von totaler Empfänglichkeit, von einem geöffneten technischen Auge, das aufzeichnet, wie die blühende und schäumende Erde sich verwundert. Traum von einer Fotografie, die aus der Öde ihrer digitalen Optimierung zu ihren Anfängen zurückkehrt, aber Emulsionen mitbringt, die mit den Farben der Natur verhandeln. Denn es gibt keine Farbigkeit an und für sich. Die Camera obscura stellt Garten und Wildnis, Gewässer, Gebäude und Äther in eine große Lichtung. Dort ereignet sich das Geheimnis der Gegenwart ereignen. Bevor ich mein eigenes Staunen über den „schweigenden Tumult“ (Wilhelm Lehmann) in der Manier des Ingenieurs und Ästheten verderbe. Ein Leben lang habe ich mein Talent geschult, die Außenwelt als meine expansive Innenwelt zu verplanen. Erfolgreich habe ich es verhindert, in Garten und Wildnis einzutreffen.
Deswegen gebe ich hier keine Beschreibung der ausgestellten Lochbilder und keine Zusammenfassung der inspirierten Bildtitel von Hanns Titel. Ich möchte verhindern, dass meine Sprachbilder mit ihnen wetteifern. Möge die Zeit, die es kostet, diesen Text zu lesen, nicht von der Zeit der Betrachtung abgehen.
Meist bin ich nirgends anwesend. Meist bin ich unempfänglich für Wesen, die still auf der Erde kauern, ihr entwachsen oder sie durchrauschen. Lieber pflege ich meine Kompetenz, aus großen Katalogen auszuwählen, wo und wie ich zugange sein könnte. Anwesenheit ist nicht mehr das, was übrigbleibt, wenn ich abschalte. Die Pausen sind in ein Programm der Regeneration eingebettet. Wir haben die Gelassenheit zu den Dingen verloren. Spontan zu sein, macht es noch schlimmer. Wir müssen uns zunächst bestimmte Exerzitien der Selbstvergessenheit auferlegen. Hineintreten in ein feierliches Nichtstun. Den therapeutischen Zweck
des Nichtstuns (Erholung) der Fülle opfern. Warten, bis Worte kommen. (Vorsichtiges Pressen ist erlaubt.) Körperlich anstrengende Tätigkeiten verrichten. Jahrestage von Ereignissen begehen, die nur uns selbst bekannt sind.
Askese: Zuhören, ohne dass schon die Antwort im Mund zusammenläuft. Askese:
Nachsehen, ob eine als sicher geltende Annahme stimmt. Askese: Die Person, mit der ich zusammenlebe, aufmerksam in Augenschein nehmen. Und später, zur Belohnung, die Katze.
Askese: Akzeptieren, dass diese Person und die Katze mehr von mir sehen als ich selbst im
Spiegel. Lade Wald und Wiesen und Wolken zu dir ein und entferne dich. Wie es Hanns Zischler vorführt: Mach die Klappe auf und zaubere die Platte voll. Wenn du viel Zeit vor Hanns Zischlers Ausbeute verbringst, kannst du sagen: Ich war dort anwesend.