‚Tante Wally ist entweder eine Heilige oder ein Nichts oder die Große Hure Babylon höchstpersönlich.‘ Und nach einer Pause fragte er: ‚Verstehst du nicht?‘, und ohne meine Antwort abzuwarten, sagte er belustigt: ‚Brauchst du auch nicht zu verstehen!‘ – ‚Ja ja, die Gewisse‘, spöttelte er noch, nahm sich ein Buch und begann zu lesen. Für ihn war unser Gespräch beendet, für mich aber war in diesem Augenblick nicht mehr nur Tante Wally rätselhaft, sondern meine gesamte kleine Welt.
Tante Wally war erneut aus dem Bereich verstehbarer Nähe entrückt. Sie war die Ferne. Gerüchte umwoben sie. Viele Lebensbilder kursierten von ihr. Ich konnte nicht entscheiden, welches galt und welches nicht. Und wenn es so stand, wie es stand, wer hinderte mich daran, selbst ihre Lebensgeschichte zu erfinden, eine Lebensgeschichte, die Halt gab, die mich befriedigte und die, wie ich meinte, in gleicher Weise auch die Erwartungen aller Wissbegierigen erfüllen werde: Ich ließ Tante Wally eine arme Bauernmagd sein, gezwungen, für einen Hungerlohn die niedrigsten Arbeiten zu verrichten, ließ sie Haus und Ställe reinigen, die Tiere auf die Weide treiben, als Erste aufstehen und als Letzte todmüde ins Bett sinken, ohne je Anerkennung oder Dank zu ernten. Ich bediente alle herkömmlichen Klischees.
- Veröffentlicht am Dienstag 24. März 2015 von Fischer, Karin
- ISBN: 9783842243361
- 48 Seiten
- Genre: Belletristik, Lyrik