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Gedichte

von ,

Nachwort von H.-J. Griebe (Hrsg)
Die Gedichte von Ingeborg Endres-Häusler bescherten mir beim allerersten Lesen manch heftiges Déjà-vu, jenes reali­tätserschütternde Gefühl des Wiedererkennens, das mich schon oft bei Kunstwerken, die ich in Wahrheit nie zuvor er­blickt hatte, geistig und körperlich anfasste.
Adorno nennt diese Empfindung »Schauer«, bei Benjamin heißt sie »Aura«, bei Hegel »das sinnliche Scheinen der Idee«. Dieses Gefühl des Wiedererkennens speist sich aus derselben Quelle wie der coup de foudre in der Liebe. »Da bist Du ja end­lich!«, denkt der Getroffene – und hat doch eine Sekunde vor der Begegnung noch nicht einmal geahnt, wer oder was ihm da in seinem Leben fehlte. Menschen, die zum ersten Mal am Meer stehen, empfinden Ähnliches. Alles ist berauschend neu, nie gesehen, nie gehört, nie gefühlt, nie gerochen, nie solche Luft geschmeckt. Und dennoch ist ihnen alles tief ver­traut.
Weil jeder von uns das Meer in sich trägt.
Verstörend, dieses Wiedererkennen. Eine Verstörung, die ein Zeichen für den Wahrheitsgehalt eines Werks ist. Und wer in diesem Buch z. B. »Wandlung«, »Ein Reisekleid« oder »Gäa« auf­schlägt, der spürt: Diese Gedichte sind in der Welt, als hät­te es sie schon immer gegeben. Wie das Meer. Oder »Wandrers Nachtlied« von Goethe. Es ist die schlagartige Ge­wissheit: Nur so und nicht anders konnte es gemacht wer­den!
Bei der Betrachtung des Gesamtwerks fragt man sich dann: Was kann diese Autorin eigentlich nicht? Selbst das schein­bar beiläufig Hingetupfte entziffert sich bei näherem Hinse­hen als abgrundtief-unauslotbares Kunst-Werk.