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Gedichte

von ,

Um die Lyrik von Namyeun Choy zu beschreiben, muss man notwen­diger Weise zu Paradoxien greifen: Eine sanfte Brise aus Stahl, ein Staubkorn von der Größe des Alls, ein schwe­bendes Blütenblatt mit dem Gewicht der ganzen Welt, die un­endliche Weis­heit der Dinge – Widersprüchlichkeiten, die in dieser Poesie nicht als Gegensätze auf­treten, nicht unver­einbar sind, vielmehr eine untrennbare Einheit bil­den. Alles ist in allem in diesen Zeilen und Wortgeflechten, und das ist keines­wegs im Sinne einer abendländisch-klappernden und rumpeln­den Metaphernmaschinerie zu verstehen, sondern als Axiom, als nicht hinterfragte und nicht hinterfragbare Voraussetzung für die Arbeit der Dichterin.
Eben dieses Axiom, diese innere Gewissheit, dass es ein Einzelnes gar nicht gibt, versetzt Namyeun Choy in die Lage, mit scheinbar leichter Hand selbst bleischwere philosophi­sche Riesenklötze zum Tanzen zu bringen.
Anfangs schien es mir, als gäbe es Lücken und Leerstellen in den hier versammelten Gedichten. Aber wie bei jedem ge­lungenen Kunst­werk, das man betrachtet, betrachtet das Werk irgendwann denjeni­gen, der es anschaut. Und da wurde mir schlagartig klar: Diese Lücken gibt es nicht im Werk, es gibt sie ausschließlich in meinem Denken und Dasein! Als Folge nämlich eines naturwissenschaftlich konditionier­ten, mechanistisch-materia­listisch geprägten Intellekts, der alles zer­legen, zer­splittern, voneinander tren­nen muss, und dann bei der Ana­lyse der Bruchstücke das Ganze nicht mehr zusam­mendenken kann.
Man kann bei Namyeun Choy viel lernen für das lyrische Hand­werk. Noch mehr ließe sich aber lernen von dem, was da hinter, zwischen und über der lyrischen Melodie mit­singt und mitklingt: Eine Ganzheit, in der zugleich unendliche Trauer und unendlicher Trost zu finden ist.