Wie viele Dichter des frühen 19. Jahrhunderts hat sich Alfred de Musset in seinen Werken oftmals mit Künstlerfiguren beschäftigt. Auch in seiner Novelle Der Sohn des Tizian – die er für seine beste hielt – kommen Reflexionen zum eigenen dichterischen Schaffen in der Gestaltung der Hauptfigur zum Ausdruck: Pomponio Vecellio, genannt Pippo, ist der zweite Sohn des venezianischen Malers Tizian, der bei Musset das große Maltalent vom Vater geerbt hatte, aber an seiner eigenen Unfähigkeit zur künstlerischen Entwicklung scheitert. Die ihm bekannten Probleme projiziert Musset auf die Figur Pippo: er wird geschildert als ein träger Künstler, der ständig eines Antriebes bedarf; ihm fehlen oftmals konzentrierte Spannkraft, das stetige Bemühen um seine Kunst oder das beharrliche Feilen an seinem Werk. Die Liebe der schönen und vornehmen Beatrice Donato, der Musset die klassische, überindividuelle und ideale Schönheit verleiht, vermag ihn nicht zu einem Künstlerleben bewegen. Pippo malt zwar mit Hingabe ihr Portrait, doch er spürt, daß er in Zukunft nie wieder ein derartiges künstlerisches Niveau erreichen wird.
Für den Fotografen Bjarne Geiges bietet diese Künstlernovelle eine willkommene Gelegenheit, seine kongenialen Fotosynthesen zum Thema Venedig innerhalb eines Textes vorzustellen. Wer geglaubt hat, schon alles über diese magische Stadt gesehen zu haben, wird erleben, daß die präzise Milieuschilderung der Geschichte ein genaues Äquivalent in den Abbildungen erfährt. Bekannte Kirchen, Denkmäler oder Brücken, die für jeden Venedigbesucher vertraut sind, werden für den Text völlig neu und immer wieder überraschend optisch interpretiert. Dabei zeigt sich die Kunst Geiges‘ besonders darin, dem gestellten Thema mit eigenständigen Bildvorstellungen zu begegnen. Sogar der Einsturz des Campanile von San Marco, der in einem historischen Foto vom 15. Juli 1902 festgehalten wurde, wird für den Tizian-Kontext nutzbar gemacht. Auch der Schleier, der über dem Aussehen der schönen Beatrice liegt, wird etwas gehoben: könnte sie nicht sogar von Tizian selbst portraitiert worden sein?
- Veröffentlicht am Samstag 21. November 1987 von scaneg
- ISBN: 9783892355045
- 94 Seiten
- Genre: Belletristik, Erzählende Literatur