Zum Inhalt:
Wunder oder Katastrophe? Im einen liegt das andere verborgen, und es liegt an uns, welches wir nach oben kehren. Es liegt an unserem Blick, wie die Welt sich zeigt.
Wir lesen und hören täglich von Welten, die untergehen, von der eines einzelnen Menschen, dessen Familie mit einem Bombenschlag ausgerottet wird, und von der eines ganzen Kulturstammes, der mit Naturgewalt weggespült oder Menschengewalt niedergerissen wurde. Wir sehen Bilder, die uns die Worte rauben. Wir fühlen uns wie gelähmt, ohnmächtig, gegen den Schwindel anzukämpfen. Vielleicht sollten wir die Zeitung morgen nicht aufschlagen, den Fernseher ruhen und das Radio schweigen lassen. Dann erholen sich unsere Sinne und unser Blick, und plötzlich werden wir wieder der Wunder gewahr, die zwischen den Bombensplittern wie Pflanzen durch den Asphalt brechen.
Why pictures now? Diese Frage ist nicht nur der Titel einer aktuellen Fotografieausstellung eines großen Wiener Museums. Sie blickt uns in einer Zeit der weltweiten Unruhen von metergroßen Plakaten wie ein Mahnmal der Reflexion entgegen. Doch gerade jetzt wird die Macht der Bilder spürbar und die Kraft der Künstler wirksam, die es vermögen, unseren Blick auf das Wunderbare und Wundersame zu lenken.
SONJA BRAAS und BARBARA SOPHIE NÄGLE behandeln in ihren subtilen Bildern unabhängig voneinander und jede in ihrer eigenen Sprache die Thematik der Naturkatastrophe. Ihre Bilder zeigen Natur ohne Menschen, aber oftmals Natur, die von Menschen zerstört wurde und der dennoch wie durch ein Wunder eine schaurige Schönheit innewohnt. HARALD GSALLER befreit in seinen Portraits leere Insektenhüllen aus der Hand des Todes und schenkt ihnen, die doch Leben gebären, auf poetische Weise ihr eigenes zurück.
ERWIN WURM versucht mit Hilfe der bekannten Handlungsanweisungen das Äußerlich-Repräsentative des Portraits aufzubrechen. Wieder sind es „One-Minute-Sculptures“, doch mit dieser Gruppe bisher unveröffentlichter Bilder dringt Wurm in das Innere der Personen vor, er kehrt ihre von der Gesellschaft als solche bezeichneten Schwächen nach außen und transferiert sie, durch den Mut der Dargestellten selbst, zu Stärken.
Ihren Namen verdankt die sibirische Künstlergruppe BLUE NOSES den blauen Verschlusskappen, die sie während einer Protestaktion gegen die Nullenumstellung der Computer 1999 in einem Luftschutzkeller wie Clownnasen trugen. Ihre Videoarbeiten sind voll bissigen und hintersinnigen Humors und kennen kein Tabu. Sie spiegeln auf ironische Weise und mit schwarzem Humor die Verrücktheit der Menschen wider und versetzen uns in herzhaftes, panisches Lachen.
LEO ZOGMAYER spricht im Dialog mit Gründungsherausgeber Carl Aigner von bildartigen Flugblättern und darüber, dass Wissen eher blind macht als sehend. Ihn interessiert nicht das Einrahmen der Welt, vielmehr das Ausrahmen und Freilassen. Und davon sprechen seine Fotografien, die uns Mut geben, zeit-los zu werden.
„Weil man sich und die Welt um einen vergisst, wenn man in ein Gesicht sieht, das einen in seinen Bann zieht, einem eine ganze Welt preisgibt und man beschließt, diesen einzigartigen Moment mit seiner Kamera festzuhalten.“ So erklärt Francois-Marie Banier den Titel seines neuen Buches „Perdre la Tête“, das wir Ihnen, liebe LeserInnen, in dieser 55. Ausgabe von EIKON vorstellen.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen einzigartige Momente bei Ihrer Lektüre und freuen uns, Sie weiterhin als unsere Gäste auf den zahlreichen Kunstmessen, bei denen EIKON alljährlich vertreten ist, begrüßen zu dürfen. In diesem Herbst sind das das Art Forum Berlin (30. September–4. Oktober), die Art Cologne (1.–5. November) und die Paris Photo (16.–19. November). Diesmal präsentieren wir Ihnen gleich drei brandneue Editionen, zwei von Leo Zogmayer und eine von Elfie Semotan, deren künstlerisches Werk derzeit in einer umfangreichen Ausstellung gewürdigt wird.
Mit der nächsten Ausgabe feiert EIKON seinen 15. Geburtstag. Freuen Sie sich aus diesem Anlass schon heute mit uns auf eine Spezialnummer zum Thema „15 Jahre Fotografie und Medienkunst in Österreich“, die pünktlich zur Geburtstagsfeier Anfang Dezember erscheint.
Elisabeth M. Gottfried im Namen des EIKON-Teams
English Version:
A miracle or a catastrophe? The one lies concealed within the other, and it is up to us to decide which one to bring to the surface. How the world looks depends on our point of view.
Every day we read and hear of worlds that collapse, from the world of a single individual whose family is annihilated in a single bomb attack, or the fall of an entire culture, destroyed by nature or torn apart by human violence. We see images that leave us speechless. We feel paralyzed, powerless to fight off our dizziness. Maybe we shouldn’t open the newspaper in the morning, may be should leave the television off and keep the radio silent. Then our senses and our point of view have a chance to recover, and suddenly we become aware of the miracles that take place among the shrapnel, like plants growing in the cracked asphalt.
Why pictures now? This question is not just the title of the current photography exhibition of an important Vienna museum: in a time of worldwide unrest, it looks down on us from huge posters, like a call to reflection. But it is precisely now that the power of images is truly palpable, and the power of artists capable of directing our attention to the strange and wonderful has its greatest impact.
Independently of one another, each in their own languages, SONJA BRAAS and BARBARA SOPHIE NÄGLE treat in their subtle images the subject of natural catastrophes. Their images show scenes of nature free of people, but often this nature has been destroyed by humanity, but in which all the same, as if due to a miracle, an eerie beauty inheres.
HARALD GSALLER frees in his portraits empty insect shells from the hand of death, poetically returning to these shells—which themselves give way to life—a life of their own.
ERWIN WURM attempts to break through the external and representative aspects of the portrait, following the usual parameters of the genre. Again they are One Minute Sculptures, but with this group of pictures, until now unpublished, Wurm penetrates the inside of the figures; he turns what society would call weaknesses towards to outside, making them strengths that reveal the courage of the persons represented.
The Siberian artist group BLUE NOSES owes their name to the blue bottle caps that they wore during a protest action against the hysteria around Y2K in an air raid shelter, like clown masks. Their video works are full of biting and cynical humor, and know no taboos. They reflect with ironic black humor humanity’s insanity, triggering in us a hearty, panicked laughter.
LEO ZOGMAYER speaks with Carl Aigner about image-like flyers and about whether knowledge makes us more blind than sighted. Less interested in the framing of the world, than in unframing and setting free, his photography attests to this, giving us the courage to become timeless. „Because we forget ourselves and the world around us, when we look into a face that fascinates us, gives us a whole world, and decide to capture this unique moment with our camera.“ Francois-Marie Banier explains the title of his new book Perdre la Tête, which we would like to present to you in this fifty-fifth edition of EIKON. In this sense, we hope you enjoy many unique moments in your reading of EIKON, and look forward to seeing you at one of the several art fairs this fall where EIKON is represented: Art Forum Berlin (September 30–4. October 4), die Art Cologne (November 1¬–5) und die Paris Photo (November 16¬–19). This time, we present three brand new editions, two by Leo Zogmayer and one by Elfie Semontan, whose artistic work is currently on show in an extensive exhibition.
With the next issue, EIKON celebrates its fifteenth birthday. Look forward along wih us to our special upcoming issue this December to mark the occasion, 15 Years of Photography and Media Art in Austria.
Elisabeth M. Gottfried, for EIKON
- Veröffentlicht am Freitag 15. September 2006 von ÖIP
- ISBN: 9783902250254
- 92 Seiten
- Genre: Film, Fotografie, Kunst, Loseblatt-Ausgabe, TV, Video, Zeitschrift