EinSpruch

Aphorismen

von

Vorwort
Heinrich von Kleist schrieb einst: „Besäßen wir keine Augen
sondern grüne Gläser, sähen wir die Welt grün. Und alle Bekenntnisse,
daß noch andere Farben existieren, würden wir erstaunt
verneinen!“
Natürlich nehmen wir nur selektiv war; das gesamte Spektrum
infraroter und ultravioletter Strahlen bleibt uns verborgen. Selbst
das Sichtbare unterliegt unserer Subjektivität, und dies in einer
Zeit, die zu viel sieht und zu wenig betrachtet. Alles sehen zu
wollen, bedeutet aber, nichts mehr zu erkennen.
Ähnlich verhält es sich mit der Sprache. Grenzenlose Informationen
sind in ihrer Quantität unbeherrschbar. Darunter viele
Worte, denen der wesentliche Teil eines Gedankens fehlt. Unsere
Filter sind überfordert und versagen.
Der Aphorismus ist nur ein kleiner, unmaßgeblicher Versuch,
dieser Kapitulation etwas entgegen zu setzen. Er ist keine Erfindung
der Neuzeit. Das Wort Aphorismus ist griechischen Ursprungs
und bedeutet so viel wie Abgrenzung. Als erster Aphoristiker
überhaupt gilt Heraklit, und der griechische Arzt Hippokrates
verfasste seine medizinischen Grundsätze in aphoristischer Form.
Die weltweite Liste großer Aphoristiker ist lang, war aber auch
immer eine Domaine der deutschsprachigen Literatur. Georg
Christoph Lichtenberg, Arthur Schopenhauer und Friedrich
Nietzsche seien hier neben Johann Wolfgang von Goethe, Novalis
und Karl Kraus stellvertretend genannt, die sich mit dieser Kunstform
eingehend und erfolgreich beschäftigten.
Oft wird das Wort Aphorismus auch mit Gedankensplitter
übersetzt. Aber ist der Aphorismus nicht das genaue Gegenteil?
Form und Größe eines Splitters sind nicht vorauszusehende Zufallsprodukte.
Der Aphorismus mag vieles sein, dies jedoch gerade
nicht.
Seine Kürze konterkariert mit der Dauer des Gedankengangs,
der zu ihm führt. Goethe leitet einmal einen Brief an Schiller wie
folgt ein: „Entschuldige, daß ich Dir einen langen Brief schreibe; für
einen kurzen hatte ich keine Zeit!“ Vom Lyriker Gottfried Benn ist
verbürgt, dass ihm an einem abgeschlossenen Gedicht etwas nicht
gefiel, er aber vergeblich nach der Ursache suchte. Er legte die
Verse zur Seite, und erst nach vielen Jahren fand Gottfried Benn
ein einziges, aber entscheidendes Wort, das er einfügte!
Auch die Entstehung eines Aphorismus ist in aller Regel langwierig.
Die Hürden vom Gedanken zur Idee, vom Spruch bis zum
Aphorismus sind hoch. Viele Überlegungen scheitern schon im
Vorfeld an der notwendigen gedanklichen Konsequenz des Inhalts
oder der Formulierung, die der Aphorismus einfordert. Mit der
ihm eigenen kurzen Sequenz versucht er, die Aufmerksamkeit der
Rezipienten zu gewinnen. Die radikale Attacke alter, verfestigter
Denkmuster ist dabei seine schärfste Waffe.
Der Aphorismus formuliert apodiktisch, in dem er manchmal
das Gegenteil bisher unumstößlicher Gewissheiten behauptet
oder in Frage stellt. Gern geht er einen Schritt zu weit, Widerspruch,
Zustimmung oder Gleichgültigkeit als mögliche Reaktionen
einkalkulierend und akzeptierend. Die Eisdecke, die er betritt,
ist dünn, der Unterschied zwischen Mut und Wagemut verwischt.
Er weiß um die Stärken und Schwächen seiner Totalität. Überheblich,
vorlaut, unverfroren, taktlos und unbescheiden sind nur
einige Adjektive, mit denen die Kritik ihn immer wieder belegt.
Aphorismen strapazieren den Leser. Sie streicheln ihn nicht;
subkutan suchen sie ihn heim. Ihm nicht die Hand reichend, reißen
ihn die Kurztexte wie ein Weberschiffchen hin und her.
Gegen diese Zentrifugalkräfte gibt es möglicherweise ein Mittel:
Aphorismen wollen gleichermaßen langsam und sparsam gelesen
werden. Während die Spannung eines Romans oder der Inhalt
eines Sachbuchs oft dazu führt, die Bücher nicht mehr aus der
Hand zu geben, sind Aphorismen – einer Medizin ähnlich – nur in
kleinen Rationen bekömmlich. Bei allen Zumutungen des Aphoristikers
gegenüber dem Leser bestehen vielleicht doch zwei Gemeinsamkeiten
zwischen beiden während der Beschäftigung mit
dieser Prosaform: die Konzentration und die Hingabe.
Aphorismen (auch diese nicht) verändern nicht die Voreinstellungen
(auch meine nicht) gegenüber unserer Welt. Aber die
Möglichkeit eines noch so winzigen Perspektivwechsels bei dem
einen oder anderen Leser lässt das Schreiben von Aphorismen
nicht ganz vergeblich erscheinen.
Nun, dieses Vorwort ist dem Aphorismus bereits zu lang. Lassen
wir ihn also endlich sprechen!