›Annäherungen an die Zensur‹: so könnte, aus einer bestimmten Per-
spektive betrachtet, das durch die unterschiedlichen Gegenstände
kaum verhüllte Thema dieser Aufsätze lauten. Gemeint wäre damit
jener in allen sprachlichen Äußerungen wirksame Mechanismus der
Unterdrückung, der sich vielleicht an den absichtslos hingestreuten
am überzeugendsten beobachten lässt. Wer spricht, zensiert und wird
zensiert. Dabei bleibt es gleichgültig, ob er mit sich oder mit anderen
redet und wie bewusst oder unbewusst das geschieht. Da die Schwel-
le zwischen beiden Zuständen in der Rede selbst liegt, ›entscheidet‹
letztere darüber, ob, wann, wie oft und mit welchem Ziel sie passiert
wird.
Der Zensor wacht darüber, was an Sagbarem ungesagt bleibt. Als
innere Instanz ähnelt er ebenso sehr dem daimonion des platonischen
Sokrates wie dem in jeder Gesellschaft virulenten Sinn für das ›Schick-
liche‹. Bevor eine Rede als anstößig gilt, muss sie irgendwann die
Kontrollen passiert und wirklich Anstoß erregt haben. In diesem Sinn
ist die Ermittlung dessen, was sich in der Sprache gehört, als empiri-
scher Vorgang zu begreifen. Die Hauptarbeit ist stets schon geleistet,
sobald jemand ›den Mund aufmacht‹ oder zu einem der bereitste-
henden Schreibgeräte greift. Vieles, was gesagt werden könnte, ›hat
sich erübrigt‹, anderes ›steht nicht auf der Agenda‹, wieder anderes
stört oder trägt einen Index: Cave! Zensur ist ein akkumulatorischer
Prozess.
- Veröffentlicht am Dienstag 2. Oktober 2018 von Manutius
- ISBN: 9783944512198
- 328 Seiten
- Genre: Belletristik, Essays, Feuilleton, Interviews, Literaturkritik