Erschöpfendes Interpretieren

Eine exemplarische Auseinandersetzung mit Heinrich von Kleists Erzählung 'Das Bettelweib von Locarno'

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Dieses Buch ist eine Satz-für-Satz-Interpretation von Kleists kurzer Erzählung Das Bettelweib von Locarno und zugleich ein Beitrag zur Interpretationstheorie, der die Rekonstruktion der Logik des Textes als vorrangiges Ziel des Interpretierens fordert. Dabei soll die intentionale Struktur des Textes nicht unterschlagen, sondern aufgehoben werden. Diese Forderung lässt sich weniger am Gedicht entfalten – dem bevorzugten Gegenstand von Interpretationen – als an der Erzählung, in der sich das Entgleisen der Autorintention auf andere Weise realisiert. In dieser Hinsicht wird Das Bettelweib von Locarno als exemplarischer Ausnahmefall analysiert. Die Vorgabe der Satz-für-Satz-Interpretation ermöglicht dem Leser nicht nur eine mühelose Orientierung, sie sorgt auch dafür, dass die theoretischen Überlegungen stets an konkrete Interpretationsprobleme zurückgebunden sind. ‚Erschöpfend’ heißt dieses Interpretieren nicht, weil es den Text erschöpft, sondern weil es die selektiven Lesarten ablehnt, die das Interpretieren gewöhnlich erst handhabbar machen. Zugleich zeigt sich im erschöpfenden Gang durch Kleists Erzählung, dass der literarische Text dem Interpreten nicht lediglich Gegenstand, sondern zugleich Medium des Denkens zu sein hat. Die Interpretation muss – wenn sie nicht müßig sein will – über sich selbst hinausgehen, wenn sie dem Text gerecht werden will. Sie tut es, indem sie sich der Sache öffnet, um die es im Text geht. Daher richtet sich dieses Buch nicht nur an diejenigen, die sich mit der Theorie und der Praxis des Interpretierens beschäftigen oder sich für Kleist interessieren, sondern an alle, für die der literarische Text etwas ist, das zu denken gibt.