Erste Wahl

Ein Zukunftsroman

von

2023 ergeht ein neues Rentengesetz: Der Verzicht auf staatliche Hilfen wie Rente und Krankenversicherung soll mit einer einmaligen finanziellen Abfindung honoriert werden. Wenn diese Mittel aufgebraucht sind, wählen die meisten den empfohlenen Freitod.
Susanne Helbrich, 75 und demenziell erkrankt, weiß davon nichts. Sie liebt ihre Pantoffeln, verwechselt die Lebenden mit den Toten und balanciert am Krückstock durch ihre Fotoalben. Derweil betrügt ihr Bruder Jens sie um die Abfindung.
„Erste Wahl“ rührt an drängende, schwer zu beantwortende Fragen. Glaubwürdig und lebendig beschreibt die Autorin Menschen, die sich mit ihnen auseinandersetzen: ältere und junggebliebene, zuversichtliche und verzagte. Dabei schürt ihr Buch weder die Angst vor einer „Alterslawine“, noch klagt es an. Es macht Mut: So empfindsam, stur und liebenswürdig können wir sein!

Markus und Jens stehen am Fenster und unterbrechen vorsichtig ihr Schweigen.
„Alzheimer also“, sagt Jens.
„Ganz im Anfangsstadium“, antwortet Markus.
Sie schauen in die Dämmerung. Gegenüber in einem Fenster leuchten elektrische Weihnachtsketten. Grün, dann rot, dann blinken sie unruhig gelb, dann wieder grün.
„Wie lange hat sie noch?“
„Das kann man überhaupt nicht sagen. Es kann auf einmal schneller gehen, und sie nimmt ja Medikamente dagegen. Bei manchen hält sich ein Zustand lange. Noch ist sie ja ziemlich fit.“
Grün, rot, dann unruhig gelb.
„Kann sie noch allein sein?“
„Ja, ja, das geht noch ganz gut.”
„Lange wird das nicht so bleiben?“
„Man weiß es eben nicht. Irgendwann jedenfalls wird es schlimmer werden.“
Jens Augen suchen Beruhigung im gleichmäßigen Lichtspiel des Adventsfensters gegenüber. Sein Herz klopft.
„Da hat sie doch Einfluss drauf“, er flüstert fast.
Markus verzieht keine Miene.
„Du meinst die Erste Wahl?“, sagt er nach einer Weile.
„Nun, liegt ja nahe, oder?“
Markus wartet rot ab und blinzelnd gelb. Und grün. Und wieder rot.
„Wir sind dagegen“, sagt er. Die Brüder schauen nebeneinander ins Dunkel. Warten auf nervöses Gelb und atmen tief bei längerer Rotphase.
Wenn es aufhörte zu leuchten, müssten sie woanders hingucken.
Sie könnten Streit kriegen.