Frieder

Ein Anfang

von

„Frieder steht auf dem Adolf-Hitler-Platz (früher Neumarkt und viel später wieder) und staunt, als er zu den Turmspitzen hochsieht, wie klein die Leute sind, die da von der Galerie herunter gucken, viel kleiner noch als die Kölner Heinzelmännchen. Diese Leute sind Frieders Großeltern, das stadtbekannte Türmer-Ehepaar Rupp. Frieder nimmt an Anitas Hand das Dutzend Treppen in Angriff, die hinauf zur Türmerwohnung führen. (…) Wie jedes Mal hat sich Frieder dreimal versichern lassen, daß nicht geläutet werden würde, wenn der Glockenboden zu passieren ist. Vor den Glocken hat er große Angst. So gern er bei den Großeltern ist, um auf Großmutters oder Tante Trudes Arm in die Tiefe auf Rathaus und Markt zu schauen oder Opa Paul beim Schustern zuzusehen, so sehr fürchtet er sich vor dem Geläut.“

Frieder wächst in einer ostdeutschen Kleinstadt auf. Krieg und Nachkrieg bestimmen das Leben der Familie. Doch Frieder kennt neben dem Mangel auch die Fülle: im Paradies namens Kindheit lernt er Anschleichen wie bei Karl May, schreibt Kasperlestücke, wird bewunderter Klavierschüler und bekommt von einem GI den ersten Kaugummi seines Lebens. Nach Gründung der DDR begeistert ein junger Lehrer die Schüler für die Ideen des neuen Staates. Frieder müht sich mit Stalins Schriften und wird Trommler in der Schalmeien-Kapelle. Als diese aufgelöst wird, weil „Konterrevolutionäre“ unter den Schülern entdeckt und verhaftet werden, bekommt Frieders Vertrauensparadies den ersten Riss.

Wie sind wir geworden, wer wir sind?

Dieser Frage geht der Autor in seinem unvollendet gebliebenen Roman nach. Gottfried Fischborn (1936 bis 2020) lehrte an der Leipziger Theaterhochschule „Hans Otto“ und am Deutschen Literaturinstitut. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte er Stücke, Hörspiele, Gedichte und Essays. Zuletzt erschienen die Bände „Vorkommen. Vor kommen. Ein Jahr Lebenszeit“ und „Die Narbe. Ein Ossi im Westen“.