Gänsesommer

von

‚In meinen Tagebüchern‘, schreibt Elke Erb, ‚und in der Arbeit
mit ihnen ist von 1995 an ein Prozeß abgelaufen mit
mehrfach wechselnden Arten von Erfolg und Mißerfolg – in
komplexer Verbindung. Die Tagebücher sind eigentlich nur
Notizbücher, mit datierten Eintragungen, die auf gedankliche
Klärungen zielen, also vorerst nicht auf literarische.
Bisher hatte ich die Notizen dann durchgesehen und entschieden,
welche für das literarische Medium taugen. So
sind auch meine letzten Bücher zusammengekommen:

aus solch einem vorliterarischen Grund (und etwa denselben
Jahren) entsprungenen Texten also.
Durch die Tagebücher ab 1995 zog sich eine Reihe von Eintragungen,
die bestimmte Alterserscheinungen protokollierten:

irritierende, mir bisher unbekannte Gefühle von Insuffizienz,
Katastrophenangst, seltsamen Verlegenheiten u. dgl.
Du fühlst dich bezichtigt, geschmäht, elend, und weißt
nicht warum. Ich protokollierte sie fragend und zog sie aus
den Tagebüchern zusammen, um mir über sie klarzuwerden,
auch im Gespräch mit Gleichaltrigen. So entstand ein
Manuskript, und mit ihm, neben seinem ersten Sinn, per
Gewohnheit auch der Aspekt, ob aus ihnen ein Text werden
könne. Als ich im Sommer 2001 an das Unternehmen
heranging, gab ich die Idee, diese Altersdefizite allein tanzen
zu lassen, auf – in der Überlegung, daß ich die Tagebuchperson
mit ihren weiteren Zusammenhängen darzustellen
hätte. So kam es, daß ich in die Defizit-Liste noch
und noch andere Notate aus den Tagebüchern aufnahm. In
ihrer Fülle widersprachen sie überraschend dem von den
Anfechtungen vorgeschlagenen negativen Fazit, es zeigte
sich eine lebendige Person und Fülle statt Flaute. Und von
der Schreibwerkstatt her gesehen, mit Trotz gegen die gewohnte
Norm und zugleich Lust, eine Entscheidung für Authentizität
– statt der Literarisierung vom Typ der Texte in
den letzten beiden Büchern, die ich nun ‹Springertexte› zu
nennen begann. Der Erfolg übertraf das ursprüngliche Vorhaben,
die Insuffizienz-Angriffe wurden tatsächlich überrundet.
Aber das Manuskript konnte niemand lesen. Dank
der Kritik, in der dieser Mißerfolg deutlich wurde, begriff
ich, mit Reue, aber auch ein wenig Frohlocken: ich muß
wirklich sagen, – nicht bloß denken. Das war ein entscheidender
Schritt, aus dem veränderten Gesamt-Ansatz resultierte
ein neuer Stil mit ungewohnten Gesetzen.‘