Gesammelte Briefe. 6 Bände

Band II: Briefe 1919–1924

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Am 19. September 1919 – etwa drei Monate nach dem Doktorexamen – schrieb Benjamin an seinen Freund Ernst Schoen: »An das Thema: Briefwechsel, ließen sich verschiedene Digressionen anschließen. Erstens darüber, wie sehr diese unterschätzt werden, weil sie auf den völlig schiefen Begriff des Werkes und der Autorschaft bezogen werden, während sie dem Bezirk des ›Zeugnisses‹ angehören, dessen Beziehung auf ein Subjekt so bedeutungslos ist, wie die Beziehung irgendeines pragmatisch-historischen Zeugnisses (Inschrift) auf die Person seines Urhebers. Die ›Zeugnisse‹ gehören zur Geschichte des ›Fortlebens‹ eines Menschen und eben, wie in das Leben das Fortleben mit seiner eignen Geschichte hineinragt, läßt sich am Briefwechsel studieren. Für die Nachkommenden verdichtet sich der Briefwechsel eigentümlich (während ›der einzelne‹ Brief mit Beziehung auf seinen Urheber an Leben einbüßen kann): die Briefe, wie man sie hintereinander in den kürzesten Abständen liest, verändern sich objektiv, aus ihrem eignen Leben. Sie leben in einem andern Rhythmus als zur Zeit da die Empfänger lebten, und auch sonst verändern sie sich.« Wenn auch der unmittelbare Anlaß dieser Überlegung Benjamins Lektüre der beiden Briefwechsel Goethes mit dem Grafen Reinhard und mit Knebel war, so läßt sich doch in ihr ein für den Briefschreiber Benjamin programmatischer Charakter erkennnen.