Gestalt

Materialbilder

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‚Für Reiner Amann ist die Fotografie noch heute ein medialer Bestandteil des künstlerischen Ausdrucks. Seit er 1950 das erste selbst verdiente Geld in eine gebrauchte Kamera investierte, ließ ihn die Leidenschaft für die lichtbildnerische Aufnahme von Mensch und Umwelt und für das Festhalten wechselnder Zustände des atmosphärischen Lichts nicht mehr los. Von Anfang an war die Fotografie für ihn Schule des Sehens (Oskar Kokoschka), und aus der Abbildung der Wirklichkeit erwuchs bald seine Beschäftigung mit der bildenden Kunst. Hierbei war die erste große Picasso-Ausstellung 1955 in München ein Schlüsselerlebnis für Reiner Amann.

Etwa ab 1975 entstehen seine ersten plastischen Arbeiten – Skulpturen aus verschiedenen Materialien, vorzugsweise aus Fundstücken oder Schwemmholz. Zum Ausgleich für seine berufliche Tätigkeit als Aktien-Börsenhändler, der alltäglich mit immensen Geldbeträgen umgeht, schärft Amann in der freien Zeit seinen Blick für das scheinbar Wertlose. Er ergründet die Beschaffenheit einfacher Materialien und lotet ihre Ausdrucksmöglichkeiten aus. Für seine frühen Kreationen aus Metall läßt er sich von Maschinen- und Eisenplastikern wie Jean Tinguely, Robert Jakobsen, Julio González, David Smith und Bernhard Heiliger inspirieren.

Ein paar Jahre später, etwa ab 1985, stellt Reiner Amann seine ersten Materialbilder her. Er verwertet dabei Stoffe, die für Skulpturen ungeeignet sind, und er schöpft dabei aus einem enormen Fundus an Fundgegenständen und Flohmarktstücken, die sich im Magazin seiner Kunstwerkstatt anhäufen. Anregungen für seine ersten eigenen Assemblagen holt er sich bei künstlerischen Vorbildern wie Robert Rauschenberg oder Antoni Tàpies. Wie sie fügt er raumplastische Gegenstände in die Bildstruktur ein und erzeugt mit einmontierten Objektrelikten reliefartige Wirkungen auf der Bildplatte.

Ob Reiner Amann fotografiert, Skulpturen schafft oder Materialbilder komponiert – bis 1990 geschieht alles privatim. Erst nachdem er sich von seinem erlernten Beruf befreit hat, geht er mit seiner künstlerischen Tätigkeit in die Öffentlichkeit. Der Galerist Günter Frey ermöglicht Amann in den Jahren 1991, 1992, 1993 und 1995 die ersten Einzelausstellungen in Fürstenfeldbruck. 1991 besucht Reiner Amann die Sommerakademie in Salzburg; dort sieht er sich in seinem kreativen Schaffen durch Professor H.J. Breuste bestätigt, bereichert und beflügelt. Fortan präsentiert Reiner Amann in einer Reihe von Ausstellungen in Fürstenfeldbruck und im Großraum München Skulpturen, Assemblagen und immer noch Fotografien von unverkennbarer Handschrift und bemerkenswerter Qualität.

Das objet trouvé – das zufällig aufgesammelte, triviale Abfallprodukt – findet in Reiner Amanns Materialbildern nicht nur als künstlerisches Gestaltungsmittel Eingang. Es gewinnt als wesentlicher Bestandteil des Kunstakts Geltung. Mit dem Auffinden und Aufbewahren der von ihrem Zweck gelösten Gegenstände reagiert Amann auf das Verschwinden der Dinge in einer virtuell werdenden Welt. Mit dem Erfinden von immer neuen Materialbildern holt er die gefundenen, in der modernen Konsumgesellschaft – ihrer Funktion entrissenen Dinge wieder in das Dasein zurück. Wie Wortfetzen aus weiter Ferne fängt er seine objets trouvés ein, um sie auf eine neue Weise nahe zu bringen und zu verstehen.

Ob bizarr geformtes Schwemmholz aus der Amper oder landwirtschaftliche Geräte von nostalgischer Ästhetik – Reiner Amann läßt sich unmittelbar von den Fundstücken inspirieren. Seinen Materialbildern liegt kein Plan und keine Zeichnung zugrunde. Ganz ohne Skizzen und Konzepte entwickeln sich Kompositionen aus Holz und Metall, Leder und Sackleinen, Wellpappe und Sand – herausgegriffen aus einem Haufen von Fundstücken, wobei die Form eines Stückes nach einem zweiten und dritten ruft, bis eine vorläufige Synthese auf der Bildplatte erreicht ist. Erst in den letzten Jahren hat Amann damit begonnen, die früher schwarzen Bildhintergründe farblich in Acryl zu variieren. Rein, kräftig und ohne Modellierung aufgetragen, steigert die Farbe der Holzplatte den Symbolgehalt und die Ausdruckskraft des darauf montierten Fundstücks, das seine ursprüngliche Farbe und Patina behält.

Jedes Materialbild ist ein Unikat, jedes lebt von einer anderen Syntax. Allen gemeinsam ist eine klare, schnörkellose Bildsprache, die einer geheimen Verbindung zwischen der ursprünglichen Substanz und dem neu entstandenen Abbild Ausdruck verleiht. So machen Amanns Assemblagen auf vielfältige, Sinn und Geist, Phantasie und Emotion anregende Weise Untergegangenes, verloren Geglaubtes, Unsichtbares sichtbar. Jedes Materialbild birgt Fluchtlinien für das eigene Denken und Empfinden. Dem Betrachter eröffnen sich Korrespondenzen der Bildwerke mit Wortgefügen und Gedankengebäuden der Literatur und Philosophie. In epigrammatischer Kürze lassen sich die elementaren, fast archetypischen Materialbilder Reiner Amanns mit einem Lehrsatz aus dem tao te king des Laotse auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Das Sichtbare macht die Form eines Werkes aus, das nicht Sichtbare seinen Wert.‘

Werner Dreher: Das sichtbar Unsichtbare. Die raumplastischen Materialbilder Reiner Amanns