Gib ihm Sprache

Leben und Tod des Dichters Äsop

von

«Äsop war zahnlos, seine Rede kaum verstehbar. Äsop schielte. Er reckte den Kopf vor. Seine Nase war platt, seine Haut schmutzfarben. Äsops Bauch quoll über den Gürtel. Äsop war krummbeinig. Sein linker Arm war kürzer als der rechte. Manche sagen: Sein rechter Arm war kürzer als der linke. Äsop war ein Sklave. Für eine Arbeit in der Stadt war er unbrauchbar. Sein Herr bestimmte ihn für eine Arbeit auf dem Land.» So beginnt Schädlichs Nacherzählung des anonymen griechischen Äsop-Romans, überliefert in einer Handschrift aus dem 10. Jahrhundert.

Den besonderen Reiz machen natürlich die äsopischen Geschichten aus. Wie er bei einem beschwerlichen Fußmarsch den Proviant für alle trägt, am Morgen schwer gebeugt unter der Last, abends – alles ist aufgegessen – leichtfüßig und unbelastet. Wie er, seinen Herrn zu erziehen, dessen Befehle wörtlich ausführt («Koch ein Paar Linsen!») und ihn, den berühmten Sophisten, so dazu bringt, genauer auf das zu achten, was er sagt. Oder wie er ihm hilft, die Wette «Ich werde das Meer austrinken» zu gewinnen.

Das Geschenk der Sprache, Witz und moralische Klarheit im Angesicht der übermächtigen Sophisterei – man merkt schnell, warum Schädlich sich zu Äsop hingezogen fühlt.