Haiku und so weiter

von

Vorwort
Haiku ist weder „fertig“, wie wir es von einem Gedicht
Goethes oder Hölderins kennen, noch „schön“, so
schreibt Dietrich Krusche. Wir sollen es nicht einfach
ansehen und stehenlassen, sondern es verlangt nach
Kooperation. Es will nachvollzogen und weitergedacht
werden.
Haiku ist kein kompliziertes Sprachgebilde. Es kommt
nicht mit Verschnörkelungen daher, um Leser zu beeindrucken,
sondern es ist ehrlich und authentisch und
damit im besten Wortsinn entwaffnend. In einer
deutschsprachigen Haiku-Szene mit experimentellen
Strömungen in alle Richtungen hat der erfahrene
Haiku-Dichter Gontran Peer sich diese traditionelle,
ungeschminkte Schreibart nicht nur bewahrt, er hat sie
von Buch zu Buch immer weiter perfektioniert. Die
vorliegende Sammlung ist in der Natur und den
Jahreszeiten verankert. Hier schreibt ein Autor, der ein
großes Bewusstsein für die jahreszeitlichen Vorgänge
hat und es in Haiku umzusetzen vermag. Seine Haiku
bilden die Ambivalenz der Naturverbundenheit mit der gleichzeitigen Wahrnehmung, durch ebenjene Suche
nach Nähe zur Natur ein Störenfried zu sein, ab:
–Ein Amselweibchen
–nur kurz das Nest verlassend –
–es hüpft, flieht vor mir
Aus den Gedichten spricht Alleinsein in erwünschter
und unerwünschter Form, Ehrfurcht vor dem und
Liebe zum Leben, oftmals ein Betrachten mit Augenzwinkern,
das Scheuen der Menschenmenge und die
gleichzeitige Notwendigkeit, unter Menschen, Gleichgesinnten
zu sein oder zumindest die Sehnsucht danach
zu haben. Doch verlässt Gontran Peer auch in Sehnsuchtsmomenten
nie den gradlinigen, authentischen
Weg, fällt nicht in Larmoyanz oder Manieriertheit.
Mühelos wechselt er in eine humorvolle Perspektive
und erinnert daran, dass das Haiku ganz ursprünglich
einmal ein Scherzgedicht war, mit dem sich vortrefflich das eine oder andere kleine Missgeschick andeuten
lässt:
–Am einsamen See –
–die Badehose verliert
–ihren Besitzer
Gontran Peer nimmt uns mit seinem Lupenblick mit
in die Natur, die ihn inspiriert hat, und seine Liebe zum
Detail und noch zum kleinsten Getier verlangsamt
den eilenden (inneren) Schritt. Mit diesen Haiku wandernd,
fallen Spinne, ein Storch, eine Eidechse ins
Auge; still Stehendes oder vermeintlich nur am Wegesrand
Wahrnehmbares rückt in den Mittelpunkt und
wird Zentrum eines lyrischen Bildes. Auch damit steht
Gontran Peer in der Tradition der alten Haiku-Meister,
von denen besonders Issa Tiere bedichtete, die wohl
sonst kaum eine Chance hätten, in einem Gedicht vorzukommen.
Bei Gontran Peer sind sie Adressat und
Anlass zugleich:
–He, Spinne
–auf meiner Schulter –
–ja schön ruhig bleiben!

„Das Gedicht hört seinem Leser zu“, so sagte Hilde
Domin. Es soll einen Impuls geben, einen Widerhaken
setzen, damit der Leser sich, seine Erfahrung, sein
eigenes Bild darin finden und beheimaten kann. Erst
im Miteinander mit dem Leser kann ein Gedicht
seinen Auftrag erfüllen. Gontran Peers Haiku kommen
dieser Anforderung mit einer Leichtigkeit nach, der
man die gründliche und langwierige Arbeit an jedem
Gedicht nicht anmerkt. Die Präzision seines Ausdrucks
und die Eloquenz der Haiku ergänzen das jeweilige
Bild vortrefflich. So bietet diese Sammlung in jeder
Jahreszeit und jeder Stimmungslage einen Grund zu
lächeln, einen Anstoß zum Weiterdenken oder ein
tröstliches, ermunterndes, erdendes Bild, das den Leser
für eine Weile begleiten möchte. Ich wünsche den
Leserinnen und Lesern dieser Haiku-Sammlung, dass
sie von Gontran Peers Gedichten ebenso bereichert und
inspiriert sein mögen wie ich es bin.
Hamburg, 22. Mai 2016 –
Maren Schönfeld