Hesses Novelle „Klein und Wagner – Fragestellungen aus der Sicht einer psychoanalytischen Literaturwissenschaft

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Kaum ein anderer Dichter des 20. Jahrhunderts ist – sowohl als Künstler wie als Mensch – derart viel im Zusammenhang mit der sich im gleichen Zeitalter entwickelnden Psychoanalyse verhandelt worden wie Hermann Hesse. Dies gilt auch (und gerade) für die sog. „expressionistischen“ Epoche zwischen 1918 und 1925, in der Schlüsselromane wie Demian, Steppenwolf, Siddharta, etc., entstanden. Der in dieser Studie untersuchte Prosatext „Klein und Wagner“ (1919) gilt heute – zusammen mit dem im nämlichen Jahr geschriebenen „Klingsor“ – als Hesses wichtigste Erzählung mit Blick auf sein Leben wie auf sein Werk.
Die hier im Rahmen der psychoanalytischen Literaturwissenschaft an die Hand genommenen Abklärungen gehen von zwei spezifischen methodischen Prämissen aus: Zum einen stützten sie sich ab auf den Fachansatz von Sigmund Freud, ergänzt um neuere Erkenntisse der Selbstpsychologie nach Heinz Kohut. Die im Zusammenhang mit Hesse literaturwissenschaftlich wohl häufiger eingesetzte analytische Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung findet aus verschiedenen Gründen keine Anwendung. Zum andern widmet sich die vorliegende Abhandlung für einmal nicht dem Dichter selber, sondern seiner Protagonistenfigur „Klein“. „Auf die Couch gelegt“ wird somit nicht Hesse, sondern sein Held in der Erzählung. Damit soll der noch immer vorherrschenden biographischen Autorenanalyse ein alternativer methodologischer Ansatz an die Seite gestellt werden. Das mit psychoanalytischen Deutungen fiktiver Personen verbundene Risiko spekulativer Einfärbungen wird in Kauf genommen.
Im Zentrum der Ausführungen steht der Versuch der Erstellung eines in sich geschlossenen psychopathologischen Gesamtbefundes von „Klein“, der im Wesentlichen auf drei psychoanalytische Kernelemente sich abstützt: Auf einen manifesten und bedrohlichen Basiskonflikt (in Form einer vertikalen Spaltung), auf konsistent daraus ableitbare strukturelle und affektive Folgen sowie auf andere spezifische Symptome und Abwehrmechanismen. Psychoanalytisch besonders reizvoll, aber auch besonders schwierig, ist die Analyse der berühmten Schlussszene (Epiphanieszene), in der Klein mit einer Unzahl von kosmischen und visionären Bildern und Klängen im See ertrinkt. Dieses Ende der Erzählung gibt Anlass, sich mit den gerade für die freudianische Psychoanalyse so dornenvollen Problemen wie Freitod, Regression und Religionskritik zu befassen.