Ich lebe schon lange heute

Texte 1973 bis 2013

von

‚Einmal im Jahr hast du Todestag,es ängstigt dich nicht und du zündest keine Kerze an –das Datum deines Weltuntergangs ist dir unbekannt.‘

Diese aphoristisch zugespitzte Kürzestgeschichte mit dem Titel ‚Morgen früh, wenn Gottwill‘ schlägt den Ton an in diesem Erzählband von Maja Beutler: Die Toten sind im Lebenallgegenwärtig. Das können die längst verstorbenen Eltern sein, die der Tochter – sterbenskrankder Vater, verzweifelt die Mutter – bei einem vielleicht auch nur erträumten Besuchim Haus der Kindheit wieder begegnen. Das kann aber auch eine Tante sein, die im Lebenwohl eine Mauerblümchen-Existenz fristete, plötzlich am Bett der Ich-Erzählerin lasziv vorbeitänzeltund sich in roter Reizwäsche als Muse Goethes imaginiert.Maja Beutler hat mit Scharfsinn und Sinn für Selbstironie das lauernd Bedrohliche undLebensfeindlicheinnerhalb des geschützten bürgerlichen Kreises ausgelotet, wo Ehe undFamilie Hort der Geborgenheit und Gefängnis zugleich sein können.2009, nach 15 Jahren krankheitsbedingten Schweigens, hat sie mit dem Erzählband ‚SchwarzerSchnee‘ eine ‚Wiederauferstehung‘ als Schriftstellerin erlebt. Es waren souveränkomponierteGeschichten mit untergründiger Heiterkeit. Im Alter ist die ‚Wortarchitektin’noch unerbittlicher geworden in ihrem Schreiben, der Abfallkorb ist im Dienste einergrösstmöglichen Verdichtung unverzichtbares Arbeitsinstrument.Schreiben: das wollte die Tochter eines italienischstämmigen Berner Buchdruckereibesitzersschon seit ihrer Jugend.In diesem Erzählband sind neben elf neuen Geschichten auch Texte aus den vergangenen40 Jahren versammelt: etwa aus dem Debüt ‚Flissingen fehlt auf der Karte‘ (1976), aus’Fuss fassen‘ (1980) oder aus ‚Das Bildnis der Doña Quichotte‘ (1989).Es ist einspannender Rundblick auf ein Werk, das in den vergangenen Jahren als Beitrag zurweiblichen Literatur der Schweiz gewürdigt worden ist. Aber Maja Beutler kann auf einenNachruf zu Lebzeiten verzichten, in ihr ist noch eine gehörige Portion Vitalität. Mithilfe derLiteratur hat sich diese Schriftstellerin seit ihren Anfängen immer wieder ‚ins Leben gestürzt‘. Für sie gilt weiterhin, was sie vor fast 30 Jahren geschrieben hat: ‚Wenn ichschreibe, zettle ich jedenfalls Widerstand an – da bin ich ganz sicher.“Ich lebe schon lange heute‘ bietet einen Querschnitt durch ihr Schaffen. Er kann als Zwischenbilanzgelesen und als Signal des erneuten Aufbruchs verstanden werden. Und er ermöglicht,eine Erfahrung zu machen, die Elias Canetti einst so auf den Punkt gebracht hat:’Es steht nicht immer dasselbe in einem Buch.‘ Alexander Sury