In diesen Tagen – genau am 22. und 23. Oktober 2007 – jährt sich zum 67. Male ein ebenso unsäglicher wie unfassbarer Vorgang. An jenen Tagen des Jahres 1940 wurden in allen Orten Badens und der Saarpfalz rund 6.500 jüdische Bewohner aus Deutschland „abgeschoben“ und in Internierungslager in das von den Deutschen nicht-besetzte Südwestfrankreich verfrachtet.
Die jüdische Gemeinde in Konstanz hatte bei dieser Aktion den Verlust von 108 Mitgliedern zu beklagen. Unsäglich und unfassbar ist das Ereignis deshalb, weil der überwiegende Teil der Bevölkerung den Abtransport ihrer Mitbürger ohne sichtbare Rührung oder tätige Anteilnahme verfolgt hat. Hier waren die Zeitgenossen Augenzeugen. Und durch ihr Schweigen haben sie diese verbrecherische Handlung an ihren jüdischen Nachbarn und Bekannten quasi sanktioniert und sich dadurch mitschuldig gemacht.
Unbeantwortet bleibt nach wie vor die Frage, ob die Mehrheit der Bevölkerung offenen Widerstand gegen die NS-Machthaber geleistet hätte, wenn schon im Oktober 1940 absehbar gewesen wäre, dass die meisten der Deportierten zwei Jahre später im Rahmen der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ den Weg in die osteuropäischen Vernichtungslager antreten mussten – ganz abgesehen von der Frage eines möglichen, vielleicht sogar erfolgreichen Widerstandes anlässlich des „Reichspogroms“ am9./10. November 1938.
Die Kinder und Enkel der Täter-Generation haben es schwerer, sich die Betroffenheit anzueignen, die dem Holocaust – diesem in seinem Ausmaß einzigartigen Völkermord – angemessen ist. Ihrem Wissen fehlt die Dimension der Kenntnis und der praktischen Erfahrung mit den Lebensumständen in der NS-Ära. Die Beobachtungen, die der Autor an der Konstanzer Stele machte – am Mahnmal für die am 22. Oktober 1940 deportierten Konstanzer Juden – und die Gespräche, die er mit einigen Passanten führte, bestätigen, dass die Ereignisse der „Abschiebung“ im Oktober 1940 und der spätere Ermordung der ehemaligen Konstanzer Bürger kaum in das Bewusstsein der Nachfolgegenerationen eingedrungen sind. „Das ist alles schon so lange her,. und im übrigen, man hat ja keine Beziehung zu den Opfern, die Namen sagen uns nichts.“, das ist eine häufig geäußerte Meinung.
Die vorliegende Schrift ist nun der Versuch, einem dieser Namen Gesicht und Stimme wiederzugeben. Konkret soll das Schicksal der jüdischen Familie Hammel geschildert werden, die mit einer Unterbrechung insgesamt 12 Jahre in Konstanz gelebt hatte. Es soll – der Auffassung von Saul Friedländer folgend – gezeigt werden, dass „die Opfer keine bloßen Objekte einer Vernichtungsmaschinerie gewesen (seien), vielmehr besaßen sie Namen, waren Menschen mit einer eigenen, unverwechselbaren Lebensgeschichte.“
Die Familie Hammel war eine gutsituierte, bürgerliche Familie, in der das Judentum offensichtlich keine große Rolle spielte. Sie waren typische Vertreter des assimilierten jüdischen Bürgertums in Deutschland und vielleicht sogar Mitteleuropas. Es ist zum Beispiel nicht bekannt, dass der Vater in den verschiedenen Wohnorten jemals Führungsaufgaben im Synagogenrat der jeweiligen Israelitischen Gemeinde übernommen hatte.
Eine tragische und zugleich heldenhafte Rolle spielte die Tochter Johanna. Nach dem Tod des Vaters im Lager Gurs sah sie ihre einzige Aufgabe darin, ständig schützend an der Seite der Mutter zu bleiben, wohl wissend, dass sie sich damit dem leichten Zugriff durch ihre Verfolger ausgesetzt sah. So wurde sie Anfang September 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Die im Anhang des Büchleins abgebildeten Briefe und Karten, die in Gurs und Idron geschrieben wurden, vermitteln einen Eindruck von den Sorgen und Nöten, aber auch von den kleinen Freuden während der Internierung. Mit der Veröffentlichung dieser Briefe soll die Stimme des Opfers, der Konstanzer Jüdin Johanna Hammel, zum Sprechen gebracht werden.
Möge die Stimme nicht ungehört verhallen.
- Veröffentlicht am Samstag 11. Dezember 2010 von Hartung-Gorre
- ISBN: 9783866283589
- 104 Seiten
- Genre: Geschichte, Ländergeschichte, Regionalgeschichte, Sachbücher