Das „Fotografische Herbarium“ aus dem Jahr 2002 rekurriert auf ein
frühes Verfahren der Fotografie, die fotogenische Zeichnung, die oh-
ne den Einsatz einer Kamera hergestellt wird. Henry Fox Talbot hatte
schon Mitte der 1830er Jahre Pflanzen auf ein sensibilisiertes Papier
gelegt und dem Sonnenlicht ausgesetzt. Die Silbersalze wurden an den
Stellen geschwärzt, wo das Licht auftraf, die bedeckten Partien blieben
weiß, sodass sich die Blattformen hell abzeichneten.
Karen Weinert hat, der Typologie eines Herbariums vergleichbar, ver-
schiedene Blätter von Bäumen auf quadratische Glasscheiben belichtet,
die mal intakt sind, mal kleine Fehlstellen und Risse aufweisen. So sind
rund 30 Fotogramme entstanden, die im „Fotografischen Herbarium“
eine doppelte Funktion übernehmen. Zum einen fungieren sie als Ne-
gative, von denen Positive als Kontaktkopien gefertigt werden: Schwarz
wird dabei zu Weiß, Weiß zu Schwarz. Zum anderen sind sie als Ob-
jekte präsent, die zwei Prozessen unterzogen werden. Diese veranschau-
lichen das Changieren zwischen dem Bleibenden – dem Fixieren im
Bild – und dem Ephemeren – dem Vergehenden des bildlich Fixierten
– als dem zentralen Th eorem der Fotografie. Ein Teil der Glasplatten
wird so lange in ein Wasserbecken gelegt, bis sich die Emulsion abzu-
lösen beginnt und das Negativ als Urbild verschwindet. Nur der an die
Wand gepinnte Kontakt, zusammen mit anderen Abzügen als mehr-
teiliges Tableau arrangiert, ist Nachweis für dessen vormalige Existenz.
Ein anderer Teil der Platten wird zerschlagen, die Glasscherben liegen
am Boden des Ausstellungsraumes. Das fragmentierte Bild ist als Gan-
zes wiederum nur in Form der hinter Glas gerahmten Positive vorhan-
den. Das Fotogramm, in der Rezeptionsgeschichte der Fotografie immer
wieder als Selbstabdruck der Natur definiert, wird bei Karen Weinert
als Verfahren reflektiert.
Unterschiedlich dick und deckend aufgetragen, finden sich Bläschen
und Auslassungen, Schlieren und Abplatzungen in der lichtempfind-
lichen Emulsion, die somit als solche sichtbar gemacht wird und, in
Off enlegung der chemischen Grundlagen, den Mythos der sich selbst
reproduzierenden Natur widerlegt. (aus dem Katalog 2000−02, Text:
Agnes Matthias)
Nur die Schaff ung und dauerhafte Erhaltung stabiler Umgebungsbedin-
gungen bietet die Grundlage von naturgemäßem Wachstum. Ein Sach-
verhalt der sich ohne große Mühe im menschlichen Leben refl ektieren
lässt und in dieser Arbeit eine klare bildliche Entsprechung fi ndet.
Die Anlehnung an Ikonen und Initialen alter Buchkunst ist bei dieser
Arbeit nicht zu übersehen. Der Grundgedanke fußt hier auf dem Erken-
nen, dass Bäume Schriftzeichen gleich in der Landschaft stehen. Manch-
mal bilden sie Zeilen, an anderem Ort stehen sie als einzelner Buchstabe.
Die Einzigartigkeit jedes Individuums fi ndet Ausdruck in seiner spezifi –
schen Form, obwohl alle nach gleichem Grundprinzip gewachsen sind.
Aber auch die äußeren Bedingungen beeinfl ussen die individuelle Aus-
prägung jedes alltäglichen Straßenbaumes, genauso wie sich die per-
sönliche Handschrift mit der Zeit verformt.
Die Schlichtheit des grafi schen Reizes dieser Arbeit fällt zuerst ins Auge.
Erst danach bricht sich der Gedanke Bahn wie diese Form zustande
kommt. Die Elastizität ist beeindruckend. Die Ursache für diese Zu-
standsform liegt in einem langsam gewachsenen Missverhältnis. Dies ist
die direkte Folge von gezielt herbeigeführten Lebensbedingungen. Jün-
gere äußere Einfl üsse tun ihr Übriges.
- Veröffentlicht am Mittwoch 5. August 2009 von hesperus print* verlag
- ISBN: 9783932607196
- 31 Seiten
- Genre: Film, Fotografie, Hardcover, Kunst, Softcover, TV, Video