Geneigter Juror,
gewiss brauche ich nicht eigens zu sagen, dass es hochinteressant ist,
die Frage zu stellen: Wohin will ich mit diesem Text? Wie kann man
auf diese Frage antworten?
Ich selbst habe intensiv darüber gegrübelt; da ich nichts zu erwidern
fand, habe ich nach langem Nachdenken beschlossen, den Text zu
fragen. Die Aussage einer menschlichen Person ist immer empirisch
nachprüfbar, die einer fiktiven hingegen kaum. Der historische Text
wird das als haarsträubend empfinden, aber ich kann Sie, geneigter
Leser, beruhigen: mein Text ist kein historischer, er hat nur in Bezug
auf meine Wenigkeit eine historische Bedeutung, obgleich ich einen
derart pompösen, mit Realienballast befrachteten Ausdruck nicht um
alles in der Welt verwenden würde, auch dann nicht, wenn ich dafür
von einer Literaturjury mit Wohlwollen bedacht würde.
Geneigter Leser, das wird in diesem ganzen Manuskript, das aus einer
Vielzahl von Texten und Photographien besteht, eine Art »cantus firmus«.
Ich gestehe Ihnen unumwunden: Ich bin nicht zuversichtlich. Mich treibt
eine tiefverwurzelte Angst um, die da lautet: nach meinem biologischen
Tod auf ewig in der Scheol, im Nebel zwischen den Welten, wandern zu
müssen. Ich habe Angst, weil diese Schemen, Lamien und Lemuren längst
unter uns weilen. Was, wenn ich selbst dereinst ein Schatten meiner selbst
werden muss, weil ich nicht rechtzeitig, zu Lebzeiten, geschrieben habe,
was ich schreiben muss? Es ist die existentielle Angst vor der geistlichen
Desintegration, die mich umtreibt.Was erwarten Sie auch von einer Zigeunerin?
Doch wohl nicht so etwas wie »metaphysical correctness«?
- Veröffentlicht am Samstag 26. Oktober 2024 von Königshausen u. Neumann
- ISBN: 9783826072710
- 542 Seiten
- Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur (ab 1945)