Am 21.11.2011 waren zwei Jahrhunderte vergangen, seit Kleist sich am Kleinen Wannsee bei Berlin selbst getötet hat. Wer Kleists Werke schätzt oder sogar liebt, fragt sich vielleicht: “Warum?” Warum hat sich ein überaus begabter junger Mann umgebracht, der gerade erst 34 Jahre alt geworden war? Das ist eine der Fragen, die zur Entstehung des Stücks “Kleist bei Goethe in Weimar” geführt haben. Eine andere Frage betrifft die Uraufführung von Kleists Komödie “Der zerbrochne Krug” im Jahre 1808 am Weimarer Hoftheater, dessen Leiter damals Johann Wolfgang von Goethe hieß. Wieso kam es dabei zu einem Mißerfolg, aufgrunddessen das Stück nach wenigen Aufführungen abgesetzt wurde?
Das Stück “Kleist bei Goethe in Weimar” malt einen Besuch Kleists bei Goethe anläßlich dieser Uraufführung aus, der in Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Doch die Fiktion erlaubt, Menschen zweier Generationen mit Genie-Status miteinander zu konfrontieren und Antworten auf die genannten Fragen anzudeuten. Auf der Grundlage meiner Kenntnisse der Person Goethes – und das heißt vor allem seines Charakters – habe ich versucht, szenisch zu gestalten, was zur Zeit der Uraufführung hätte ablaufen können und dadurch die mutmaßlichen Gründe für das Scheitern des Stücks darzulegen. Zwar war es nicht so, hätte aber so gewesen sein können.
In der Zeit zwischen 1806 und 1810 schrieb Goethe an seinen Lebenserinnerungen “Dichtung und Wahrheit”. In diesem Buch kommen weder Heinrich von Kleist noch sein Stück oder die mißratene Uraufführung vor, obwohl sie in diese Zeit fielen, denn es endet mit Goethes Ankunft in Weimar 1775. Doch wissen wir aus anderen Quellen von einem gespannten Verhältnis zu Kleist. Es soll sogar mit einem Bruch vonseiten Goethes geendet haben. Auch dafür will ich in meinem Stück mögliche – d.h. hypothetische – Gründe veranschaulichen.
Da es in meinem Stück auch um Kleists Komödie “Der zerbrochne Krug” geht, die nicht jeder kennt oder erinnert, habe ich sie in einer stark gerafften Fassung als 2. Akt eingebaut. Aufgrund der Kürzungen mußte dabei auch die Kleistsche Auftrittseinteilung modifiziert werden. Dieser 2. Akt dient aber nicht in erster Linie dem Zweck, dem heutigen Publikum Kleists Komödie nahezubringen. Vielmehr soll er Goethes “Regeln für Schauspieler” illustrieren, deren Anwendung auf ein damals modernes Lustspiel sicher viel unfreiwillige Komik erzeugt und zu dessen Mißerfolg beigetragen hat. Auf diese Weise aber auch zu Kleists Scheitern. Der 2. Akt soll also nur Anschauungsmaterial liefern und kann, muß jedoch nicht unbedingt gespielt werden. Doch wer will und die Möglichkeiten hat, kann natürlich auch den 2. Akt komödiantisch ausspielen.
Zum Schluß ein paar Worte zum Thema Selbstmord, denen ich Kleists Abschiedsbrief an die Schwester voranstelle:
An Fräulein Ulrike von Kleist Hochwohlgeb. zu Frankfurt a. Oder.
Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allen anderen, meine teuerste Ulrike, mit Dir versöhnt zu haben. Laß sie mich, die strenge Äußerung, die in dem Briefe an die Kleisten enthalten ist, laß sie mich zurücknehmen; wirklich, Du hast an mir getan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit, dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß.
Stimmings bei Potsdam Dein
d. – am Morgen meines Todes. Heinrich
Ein Selbstmord ist immer auch eine Botschaft an die Hinterbliebenen, die allerdings nur selten verstanden wird; auch vom Selbstmörder nicht. Kleist spricht von Versöhnung, aber da ist ein Unterton, der nicht dazu paßt. Manifest erklärt er, daß sie keinerlei Schuld an seinem Tod habe, weil ihm “auf Erden nicht zu helfen war”. Aber die Wendung davor lautet nicht: “Du hast mir geholfen …” oder “Du hast für mich getan …”, sondern, sehr ungewöhnlich: “Du hast an mir getan …” Und d.h. womöglich: “Was Du mir angetan hast …” Die Umstellung würde den seltsamen Unterton erklären und einen latenten Vorwurf manifest machen. Auch der Rest der Botschaft ist nicht das, was er zu sein scheint. Wer leben will, wünscht sich keinen heiteren Tod, sondern ein heiteres, freudvolles Leben. Womöglich handelt es sich um einen (unbewußten?) Todeswunsch.
Jedenfalls ist anzunehmen, daß die Schwester lange an dieser Botschaft zu ‘knabbern’ hatte.
- Veröffentlicht am Mittwoch 8. Januar 2025 von Inform
- ISBN: 9783980584357
- 124 Seiten
- Genre: Belletristik, Dramatik, Taschenbuch