Eine Italienreise. Agip und Autostrada, Touristenbusse und Vespas. Wirtschaftswunderliche fünfziger Jahre. Der Künstler Franz Zborowsky macht sich aus Wien auf den Weg: Spritztour via Mailand, Piacenza und Parma nach Rom. In einer einsamen Hotelnacht bricht alptraumartig seine Vergangenheit über ihn herein. Wie ein Horrorfilm ziehen die verdrängten Jahre auf: das alte Wien, das seinem Untergang entgegentaumelt, der Spanische Bürgerkrieg im umkämpften Madrid, das KZ Mauthausen, die »Entlassung« an die Front, Wehrmachtsterror auf dem Balkan, die Desertion zu Titos Partisanen. 1945 Rückkehr in das Wien der Ruinen, das Orson Welles und »Der dritte Mann« legendär gemacht haben: mit Schiebern, Literaten und den alliierten Besatzern. Ein Frieden, der für ihn keiner ist: vom Krieg bleibt der Verlust der großen Liebe. Getrieben von Zweifeln macht sich Zborowsky zehn Jahre später auf zu einem lange verschollenen Freund, auf der Suche nach einer verlorenen Zeit und einer unheimlichen Wahrheit.
Ulrich Bechers Roman »Kurz nach vier« war ein Schlag ins Gesicht der Nachkriegsgeneration, ein Anschlag auf die Behaglichkeit, in der die Täter und Mitläufer von einst sich neu eingerichtet hatten, zwischen Nierentischen und Isetta, Bella Italia und Fernsehern. Der Roman spielt 1955 – bewußt im Jahr, in dem Österreich mit dem Staatsvertrag seinen langersehnten Schlußstrich unter die Vergangenheit zog. Das erleichterte es, die Heimat Hitlers und das Land der vielen Mittäter einseitig zum ersten Opfer des Nationalsozialismus zu verklären. Doch Becher legt den Finger in die Wunden, läßt Zborowsky der europäischen und österreichischen Tragödie mit vielen Akten entgehen, läßt ihn die »vergaste« jüdische Wiener Leopoldstadt durchstreifen, entlarvt die neuen Allianzen zwischen Tätern und einstigen Verfolgten, mit dem Antikommunismus als dem Kitt, der im Kalten Krieg alles zusammenhält, prangert die Hexenjagd gegen die Gegner der Atombombe – wie Albert Einstein – an.
Die atemlose Erzähltechnik mit ihren Montagetechniken begeisterte die Kritik zu Vergleichen mit Joyce, Döblin, Hemingway und John Don Passos. »Kurz nach vier« ist nicht zuletzt: ein Roman wie ein Film, mit dem fahlen Licht des Neorealismus, im zwielichtigen Wien, surreal und zwischen den Ruinen des alten Europas.
Die europäische Dimension von Ulrich Bechers Romandebut brachte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur erste internationale Beachtung – in Ost und West, über den Eisernen Vorhang hinweg, nicht nur in die DDR. Die Übersetzungen ins Französische, Italienische, Polnische, Russische und mehrere Wiederauflagen sprechen für sich.
Ulrich Becher (1910–1990), deutsch-schweizerisch-österreichischer Exilschriftsteller & Graphiker, Kumpan von George Grosz, steht seit 2009 aufs Neue im Blickpunkt: Dank der gefeierten Neuausgabe seines Romans »Murmeljagd« (1969) zählt er wieder zu den großen deutschsprachigen Autoren.
- Veröffentlicht am Donnerstag 15. September 2011 von Arco
- ISBN: 9783938375457
- 264 Seiten
- Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur (ab 1945)