Lehrer – Pauker – Menschenbildner?

Eine Blütenlese

von

Die Debatten über Schule und Erziehung nehmen kein Ende, und doch sollte der Lehrer längst ein „Ende“ für sich gefunden haben, um mit seiner täglichen Arbeit überhaupt beginnen zu können. Tragfähige pädagogische und didaktische Konzepte wären wünschenswert.
Doch nach 25 Jahren Lehrersein an mehreren Gymnasien muss ich bekennen: Die Verhältnisse, sie sind nicht so (um mit Bert Brecht zu sprechen). Gewiss, wir haben alle einmal studiert, sollten also in Sachen Pädagogik und Psychologie bewandert sein; wir haben Erfahrungen gesammelt, gewisse Leitvorstellungen entwickelt, einen Führungsstil eingeübt.
Aber das Studium liegt lange Jahre zurück. Unterdessen haben Fachdiskussionen ein wahres Eigenleben entwickelt und sind kaum mehr überschaubar. Und allmählich wird die verbleibende Berufszeit immer knapper und tritt in verschärfte Konkurrenz zur Lebenszeit. Wenn Korrekturen und Verwaltungstätigkeiten, auch bei jüngeren Kollegen, schon so viel Aufwand bedeuten, wer wird sich da der „grauen Theorie“ widmen, um das jahrzehntelang Eingeübte in Frage zu stellen?
Was mich betrifft: Ich brauche Klarheit. Überzeugungen, die mir dabei helfen, den Schulalltag so zu bestehen, dass ich abends mit mir im Reinen bin. Was mir fehlt, sind gedankliche Impulse, denn der Kopf spielt immer mit (anders als bei manchen Kollegen, die glauben „aus dem Bauch heraus“ unterrichten zu können). Dabei hat ein Grundsatz für mich immer gegolten: der Primat der Pädagogik über die Didaktik (und Methodik). Ein hoher Anspruch, den jedermann bejaht, obwohl ihm nur wenige genügen dürften (den Verf. eingeschlossen). Doch nur wer Leitbilder hat, wohin es mit den jungen Menschen gehen soll, kann sein Lehrerverhalten darauf einstellen. Und nur so können im Schulalltag fachliche Schwerpunkte gesetzt oder Themen sinnvoll ausgewählt, aufbereitet und in geeigneter Weise vermittelt werden.
Wo aber findet man Ratschlag oder gar Inspiration? Im Umkreis meines Kollegiums sehe ich überwiegend Einzelkämpfer (oder die erwähnten „Bauchmenschen“). Mit Grundsatzfragen beißt man in dieser werten Runde eher auf Granit. Daher suche ich bei großer Pädagogen Zuflucht: Ihr Ideenreichtum sind meist ebenso bereichernd wie ihr Enthusiasmus. Aus dieser Schatzkiste, die allen Nachdenklichen offen steht, habe ich eine kleine Auswahl getroffen, die unweigerlich subjektiv und lückenhaft ist. Dennoch hat sich, in überraschender Eindeutigkeit, ein recht klares Gesamtbild ergeben, was die pädagogische Basis des Unterrichtens betrifft.
Die Leser mögen selbst urteilen, was ihnen die herbeizitierten Autoren zu sagen haben. Es ist „schwere Materie“ dabei, aber auch leichter Lesbares. Was ich aber versprechen kann, ist der gediegene essayistische Stil, dessen sich viele der großen
Erziehungsschriftsteller bedienen. Das hat durchaus mit der Sache selbst zu tun, ist doch das pädagogische Schrifttum der Neuzeit von Anfang der Form des Essays verpflichtet (besonders markant bei Montaigne). Als „Versuch“ wird Pädagogik auch in der Aufklärung als akademisches Fach begründet (durch E. Chr. Trapps Versuch über Pädagogik, 1780); später begegnet uns diese Bezeichnung immer wieder (so etwa in Pestalozzis Stanser Brief, 1799). Selbst „Systematiker“ geben bei näherem Hinsehen ihre rhapsodische Seite zu erkennen (wie J.F. Herbart). Moderne Autoren sind, unter dem weitreichenden Einfluss Nietzsches, erst recht als frei denkende „Essayisten“ zu bezeichnen. Der Denkstil bestimmt den Schreibstil – bei Ellen Key und den „Reformpädagogen“, bei deren heutigen Vertretern genauso wie bei manchen ihrer Gegner.
Dementsprechend sind meine „Spaziergänge“ bewusst in einer offenen Darstellung gehalten. Mögen die Autorenporträts im ersten Teil („Stationen“) abwechslungsreich und informativ zu lesen sein! Im zweiten Teil („Versuche“) wird diese Sammlung ausgewertet und auf ihre Brauchbarkeit für die heutige (Schul)Erziehung überprüft. Die Form der Notiz möge zum Selbst- und Weiterdenken einladen.
Ich beginne mit einem Sprung in die Frühe Neuzeit. Die Gedankenwelt von Autoren wie Montaigne oder Comenius, Pestalozzi oder Fröbel mag für manchen Leser etwas eigenwillig, ja fremdartig wirken. Doch gerade das kann ein Vorteil sein, um den nötigen Abstand vom Gewohnten zu finden. Sie halten allesamt an der Idee fest, dass Schule nicht allein Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, sondern die ihr anvertrauten jungen Menschen auch erziehen soll. Das ist in heutiger Zeit nicht gerade selbstverständlich, aber nach meiner festen Überzeugung dringender nötig denn je. Dass dadurch Debatten in Gang kommen: Das ist mein Wunsch und mein Anliegen.