Lieben gestern

Notizen zur Geschichte des Fühlens

von

Von Günther Anders liegen bereits Tagebuchaufzeichnungen aus dem Exil in Paris und Los Angeles, aus dem Nachkriegseuropa, aus Hiroshima, zum Vietnamkreig vor: fast ausnahmslos Stellungnahmen zu den epochalen, zumeist katastrophalen Ereignissen seiner Lebenszeit. Wenn er darin etwas über seine eigenen Gefühle notiert hat, so doch kaum je aus dem von Augustinus bis Freud üblichen Interesse am eigenen Innenleben oder aus Lust am Wühlen oder gar aus Konfessionsgier, sondern immer nur dann, wenn er seine eigenen emotionalen Reaktionen für Beispiele, für geschichtlich charakteristisch hielt.Das gilt auch für die hier vorgelegten Stücke seines New Yorker Tagebuches der Jahre 1947 – 1949, auch wenn nun Gefühle, die seinen und die seiner Schicksalsgefährten, Hauptgegenstand der Darstellung sind, und zwar einer geschichtlichen Darstellung. Nichts wäre in der Tat naiver als zu glauben, Gefühle blieben konstant (während Ideen sich ständig änderten), z. B. Liebe sei heute dasselbe Gefühl wie etwa im Athen des Perikles oder in der Goethezeit. Ein knappes Jahrzehnt nach diesen Tagebucheintragungen hat Anders im ersten Band seiner „Antiquiertheit des Menschen“ eine Geschichte des Fühlens als ein Desiderat bezeichnet. Die hier vorgelegte Darstellung ist ein Beispiel für ein solches historisches Gefühlsporträt.