Literareon

Die Nachtigall (Theodor Storm)

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.

Sie war doch sonst ein wildes Blut;
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut
Und weiß nicht, was beginnen.

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.

Wenn in der Literatur die Nachtigallen singen, gilt es, aufzupassen: Irgendetwas wird sich ereignen oder hat sich ereignet, das es wert ist, zuzuhören. Walther von der Vogelweide lässt sie ein Stelldichein am Waldrand bezeugen und kann sich ihrer Verschwiegenheit sicher sein. Und da es gerade nicht die Nachtigall ist, die singt, müssen Romeo und Julia ihre erste Nacht beenden. Solange die Nachtigall sang, war alles in Ordnung. Meldet die Lerche den Tag, beginnen die Sorgen, die Einsamkeit und das Verhängnis.
Auch bei Storm singt eine Nachtigall, die ganze Nacht lang. Es muss Frühling sein, nicht der raue Märzfrühling mit seinen kurzen warmen Sonnenstrahlen und dem unsicheren, verletzlichen Sprießen. Es ist der Maifrühling, in dem Tier und Kraut explodiert vor lauter Lust und Lebensfreude.
Und etwas ist passiert in dieser Nacht.
Wenn wir dann die dritte Strophe lesen, lesen wir sie – obwohl sie mit der ersten vollkommen identisch ist – anders. Es wäre schlichtweg falsch, zu behaupten, die dritte Strophe wiederhole die erste.
Und das macht Storms kleines Nachtigallengedicht so einzigartig. Es verweist, einem doppelten Spiegel gleich, mitten in die Tiefe dessen, was Gedichte sind. Sprache ist hier nicht Sprache, Worte sind nicht Worte und Bedeutungen nicht Bedeutungen; Naturgesetze, die »Ist-Gleich-Zeichen« der äußeren Welt, verlieren ihren Belang. Was hier stattfindet, ist der Wiedereintritt der Form in die Form: Sprache in Versform, gebunden durch Laut, Reim, Rhythmus und Melodie, erzählt keine Geschichte, stellt keinen Ablauf dar, keine Handlung. Sie versetzt uns mitten in ein Geschehen, eine Stimmung, und ebenso hurtig lässt sie uns wieder in Ruhe.
Gedichte sind, seit der Entwicklung einer modernen Lyrik ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert, Momentaufnahmen, oft reduziert auf kleine, unscheinbare Sinneseindrücke und Erlebnisse, die flüchtig sind wie der Wind. Eine Idee, ein Gedanke, ein Horizont; eine Welt. Thema und Anlass können nichtig sein oder bedeutend, das spielt keine Rolle. Gedichten liegt die Überlegung und die Überzeugung zugrunde, dass zwischen unserem Wahrnehmen und der Welt, wie sie ist, ein tiefer Graben droht, in den hinabzusteigen die Philosophen wagen – mit mehr oder weniger Erfolg. Gedichte hingegen bauen uns Stege über diesen Graben und lassen uns daran teilhaben, dass die Welt so viel mehr ist, als das, was unser Wahrnehmen zulässt.
Zweimal hat sie gesungen, die Nachtigall, in identischen Worten. Doch, was wir hören, ist, wie beim Gesang der Vögel in der Natur, niemals das gleiche.

München im Frühjahr 2014, Korbinian vom Leder