literarisches programm

Erzählung

von

Rathaus ist eine Geschichte bürokratischer Kälte und Unberechenbarkeit in der Tradition Kafkas, eine Metapher des Ausgeliefertseins an undurchschaubare Herrschaft, aber auch eine Parabel auf das Ende des alten West-Berlin. Naoum beschreibt eine Phantasiewelt zwischen Orient und Okzident mit vertrauten Bräuchen und Werten, die Welt eines Heranwachsenden, die zerbricht, bevor er erwachsen wird.
Der junge Ich-Erzähler kennt nur einen Wunsch – endlich Angestellter im Mittelpunkt seiner Welt zu werden: dem Rathaus. Aber sein Traum geht nicht in Erfüllung. Da ist das Rathaus selbst, das in den Alltag der Familie des Erzählenden lobend – und dann strafend eingreift: Als der Hund des Rathausregistrators tot in einer falsch deklarierten Abfalltonne gefunden wird, treffen immer neue Schicksalsschläge die Familie, deren Leitmotive Zuneigung und Fürsorge zueinander, vor allem aber Liebe zum Rathaus heißen.
Am Ende steht ein Umbruch von historischen Dimensionen: Was gestern wahr war, gilt heute als Lüge und Verrat, was gestern undenkbar war, ist heute die neue Wahrheit. Was gestern verehrt wurde, wird heute zerschlagen. Doch wer geschickt genug ist, verteidigt – soeben noch Herr im alten System – auch im neuen seinen Platz.