Literatur aus dem Kaukasus

Schreiben im Krieg - Schreiben über den Krieg

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Die tschetschenische Literatur spiegelt die Leiden des Volkes von der Zeit der Deportation unter Stalin bis zum ersten (1994-1996) und zweiten Tschetschenienkrieg (seit 1999) bis in die Gegenwart. Sultan Jaschjurkaews Erzählungen Sina und Die Kartoffeln sind in die Zeit der Deportation verlegt; die Erinnerung an jene kollektive Tragödie ist wie in den Nasmnach stets gegenwärtig. Das immer wiederkehrende Motiv ist der Krieg: einerseits der Krieg von gestern, der „Vaterländische Krieg“ von 1941-1945, heroisch, aber zuletzt Schauplatz der traumatischen Deportation, andererseits die Kriege von heute, schmutzige Kriege, ohne Ideale, gekennzeichnet durch Gewalttaten, Sittenzerfall und einträgliche Geschäfte, letztlich durch die Vernichtung eines Volkes. Die Raffung der Zeit von einem Krieg zum anderen und assoziative Überblendungen sind häufig. Deutlich erkennbar sind sie in der Erzählung Und die Kerze brannte im Wind von Musa Achmadow, in welcher der erste und der zweite Krieg in den Gedanken und Erinnerungen der Personen ineinander übergehen. Sie finden sich auch in der Erzählung Die verspätete Kugel von Maschar Aïda-mirowa, wo das Gedächtnis eines tschetschenischen Veteranen, der heldenhaft gegen den faschistischen Feind gekämpft hat, vom neuen, heutigen Russland Vladimir Putins ausgelöscht wird, verächtlich und ungerecht macht es aus ei-nem auf seine sowjetische Vergangenheit stolzen Muslim einen Banditen, der in einem Erdloch verenden muss. Dschambulat Idiews Erzählung Der Heiratsan-trag nimmt unter umgekehrten Vorzeichen die in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts beliebte Thematik der schönen Gefangenenwärterin auf. Die Erzählung zeigt den Widerstand einer traditionsbewussten, patriarchalischen Gesellschaft gegen ihre eigenen Vertreter, die um selbst zu überleben zur Kollaboration angestiftet und dadurch diskreditiert werden, sowie den aufkeimenden Islamismus, der für die jüngere Generation zum einzigen Ausweg werden kann.
Die Autoren prangern die Moral- und Rechtlosigkeit an und schildern die niemanden verschonenden Qualen, insbesondere jene der furchtbaren „Säuberungsoperationen“ (Maschar Aidamirowa: Die Satschistka, Musa Beksultanow: Die Spur der Spinne im Sand). Das Spektrum der Themenkreise reicht vom kollektiven Leiden, das die Beziehung zu den Russen und zu Russland in Frage stellt, bis zu intimen Momenten jeden Krieges – mitten in allgegenwärtiger Gewalt erwachen Gefühle des Verlangens und der Liebe, manchmal sogar zwischen Russen und Tschetschenen. Die eindringlichen Schilderungen zeitgenössischer tschetschenischer Autoren spiegeln brennend aktuelle Ereignisse. Gleichzeitig geben sie dem Leser Einblick in die Kultur des traditionsbewussten, freiheitsliebenden, seine Würde hoch haltenden tschetschenischen Volkes. Die packende Anthologie gibt diesen Autoren erstmals in deutscher Übersetzung eine Stimme. Sie öffnet ihnen einen Weg aus dem Schatten des Tschetsche-nien-Krieges, der vor dem Hintergrund des „Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ nicht oder verzerrt wahrgenommen wird. Der Gewinn des Buches kommt einem tschetschenischen Solidaritätskomitee zugute.