Logbücher einer Meerjungfrau

Von den elementaren Grundlagen der Menschwerdung

von

Logbücher einer Meerjungfrau ist ein außergewöhnliches Buch, ein unerwartetes Buch. In ihm erscheint (in radikaler poetischer Form) eine Figur wieder, deren Schicksal seit Andersens berühmtem Märchen tiefgründige Stummheit ist – stumm vor Entsetzen, stumm vor Liebe (Novalis: ‚Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen.‘).

Das fremde, aus Liebe in der Menschenwelt lebende Wesen ist bei Ingeborg Horn die Protagonistin eines scheinbar fragmentarischen Textes, eines weitverzweigten Romans, eines Epos, lesbar gemacht nicht durch einen Handlungsfaden, sondern durch staunendes Aufmerksamsein. Eine Aufmerksamkeit, die auch Undine unter Beweis stellt, wenn sie, eingebettet ins Kommen und Gehen der Tage und Nächte, der Jahre und Jahrzehnte, die Landschaft, in der sie lebt, zu Wort kommen lässt, sie von der üblichen Funktion des Hintergrunds befreit und zur Sprecherin macht. ‚Die Geduld wächst im Lauf der Erzählung‘, heißt es einmal, auf die elementare Geduld Undines anspielend, die Geduld des Wassers, das immer auf Entdeckungsreise ins Unbekannte ist. Die Logbücher dokumentieren diese Reise, diesen Prozess, der auf Sprachwerdung, auf Menschwerdung hinzielt.

In der zögernden Sorgfalt dieser Aufzeichnungen kommt eine grundsätzlich andere Haltung zu unserer Lebenswelt zum Ausdruck, eine prinzipielle Kritik an unseren üblichen Antworten auf die Frage ‚Was ist der Mensch?‘; und doch sagen sie auch: Liebesmühe ist nicht vergeblich.