Ludwig Wittgensteins Philosophie interkulturell gelesen

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Weder versucht diese kleine Schrift über Wittgenstein eine allgemeine Einführung in seine Philosophie zu sein, noch möchte sie alle wichtigen Gedanken seiner Philosophie zum Thema machen. Seit einiger Zeit wird Wittgenstein verstärkt asiatisch thematisiert. Immer wieder wird die Frage gestellt: Wie viele Wittgensteins gibt es? Die Einhelligkeit der vielfältigen Antworten besteht darin: Es gibt mehrere. Ob es auch einen ›interkulturellen Philosophen‹ Wittgenstein gibt, soll der Leser selbst entscheiden. Die Spätphilosophie Wittgensteins zeichnet sich in der Tat durch eine zunehmende Kulturkritik aus, in der Hauptsache der europäisch-amerikanischen Kultur, und durch seine Kritik der mächtigen rationalistischen Tradition der europäischen Philosophie. Der Alleinvertretungsanspruch der europäischen Vernunft ist für Wittgenstein eine Illusion. Wittgenstein ist ebenso ein Kritiker einer übertriebenen technologischen Formation. Er ist skeptisch, ob die Technologie die von ihr produzierten Probleme lösen kann.

Zeitlebens war Wittgenstein auf der Suche nach Klarheit. Am Anfang meinte er sie im Begriff ›einer idealen Exaktheit‹ a priori dingfest machen zu können. Er wurde enttäuscht, denn der historische Gang auch der Ideengeschichte kennt nicht das eine höchste Ideal der Exaktheit. Später war für Wittgenstein nicht die intellektuelle Seite der Philosophie schwierig, sondern die dem Leben zugewandte. Die Klarheit, mit der Wittgenstein jetzt zu tun hat, ist eine Forderung. Die eigentliche philosophische Authentizität besteht für ihn daher in ihrer ›transformativen‹ Kraft.

Einige zentrale Gedanken seiner Philosophie werden aus einer interkulturellen Perspektive thematisiert: seine Gedanken über die Kontextualität, Familienähnlichkeit, Lebensform, Relativismus, Skeptizismus u.a. Hierbei wird sein Antiessentialismus im Vergleich der Kulturen besprochen und auf Gemeinsamkeiten zwischen ihm und dem Buddhismus hingewiesen. Der schillernde Satz am Ende seines ›Tractatus‹: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ lädt uns ein, das Thema des Schweigens, des Unsagbaren, Zeigbaren und des Mystischen in den weltphilosophischen, hier besonders in den indischen, in den buddhistischen, Kontext zu stellen. Es gibt hier grundsätzliche Gemeinsamkeiten und erhellende Differenzen, die Überlappungen aufweisen und eine interkulturelle, auch eine intra-kulturelle Verständigung und Kommunikation auch ohne einen strengen Konsens ermöglichen. Die Besprechung einiger religionsphilosophischer Ansichten Wittgensteins hat mich dazu geführt, daß ich ihn einen ›kognitiven Mystiker‹ genannt habe, ein Ausdruck, den der indische Philosoph Matilal für Nagarjuna gebraucht. Und in der Tat ist Wittgensteins Mystizismus dem von Nagarjuna näher als dem der streng theologischen Lehren.

Wittgensteins kritische Bemerkungen zu der bekannten ethnologischen Schrift „Golden Bough“ des berühmten Ethnologen Sir Frazer führen uns zu der Konzeption einer ›interkulturellen Ethnologie‹. Alle Kulturwissenschaften, und nicht nur sie, buchstabieren die Welt in ihrer je eigenen Weise und keine Buchstabierung darf sich in den absoluten Stand setzen. Oft zweifelt man an der Bedeutung und Relevanz ethnologischer Forschungen angesichts der Globalisierung der westlichen Zivilisation und Kultur. Der paradigmatische Charakter einer interkulturellen Ethnologie macht aber möglich, daß Ethnologen von der Verabsolutierung einer bestimmten Stimme Abstand nehmen. Hier verbindet sich die Überlappungsthese der interkulturellen Philosophie mit der ›interpretativen Anthropologie‹ Geertz‘.

Unsere interkulturelle Lesart der Philosophie Wittgensteins, besonders der späten Schriften, hat deutlich gemacht, daß Philosophen in erster Linie durch philosophische Fragestellungen und Lösungsansätze ihre Identität erhalten und nicht so sehr durch irgendwelche geographische, kulturelle und sprachliche Merkmale, so wichtig diese auch sein mögen. Denn ein europäischer rationalistischer Philosoph ist einem indischen rationalistischen Philosophen näher als einem europäischen antirationalistischen Philosophen. Die Vorsilbe ›intra.‹ geht in der Vorsilbe ›inter.‹ auf. Und dies ist ein Grund, Philosophen und Philosophien ›interkulturell‹ zu lesen.