Lyrik

Wortkunst lyrisch und prosaisch. Mit 22 Grafiken von PAPI und einem Vorwort von Dietrich Scholze.

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Benedikt Dyrlich zählt zu den einflussreichsten sorbischen Schriftstellern und Publizisten der Gegenwart. Er hat mit seinem lyrischen Werk der Kultur des kleinen slawischen Volkes der Lausitzer Sorben dauerhafte Impulse verliehen. Seine Gedichte erscheinen regelmäßig in sorbischen wie in deutschen Anthologien unserer Zeit. Seine schöpferische Fantasie stützt sich auf den historisch-geografischen Ursprung in der zweisprachigen Lausitz. Als Sorbe kann er sich unbefangen auf seine ethnische Herkunft berufen, sie liefert ihm das grundlegende Wertereservoir und steht ein für die kulturelle Vielfalt des heutigen Europa.

Der Bautzener Lyriker wurde am 21. April 1950 als zweites von sechs Kindern eines Kleinbauern, Tischlers und Holzschnitzers in Neudörfel/Nowa Wjeska bei Kamenz geboren. Die Mutter – eine Trachtenträgerin – starb Anfang 1967, als der Junge 16 Jahre alt war. Nach der Grundschule, mit 14 Jahren, wurde er Zögling des Bischöflichen Vorseminars in Schön-eiche bei Berlin. Von 1968 bis 1970 studierte Dyrlich in Erfurt katholische Theologie bis zur ersten Hauptprüfung. Ab 1975 absolvierte er in Leipzig ein Studium der Theaterwissenschaft, danach war er am Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen als Dramaturg, später auch als Regisseur und als Leiter des Kinder- und Jugendtheaters tätig.

Dyrlichs erstes Gedicht, ein Marienlied, wurde 1967 in der sorbischen katholischen Wochenschrift gedruckt. Ab 1968 gehörte der Student zu der von Kito Lorenc betreuten Gruppe junger Autoren beim Arbeitskreis sorbischer Schriftsteller im Schriftstellerverband der DDR. Seine erste Lyrikauswahl, der Band „Zelene hubki“ (Grüne Küsse), erschien 1975 im Domowina-Verlag Bautzen. Die kurzen, reimlosen Gedichte aus jener Phase waren Ausdruck des Bemühens, die Welt zu erkennen und die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Diesen Namen fixierte er gern in zweierlei sprachlicher Gestalt: auf Sorbisch und auf Deutsch. Das literarische Erbe von Männern wie Augustinus, Novalis, Rilke, Brecht oder Hesse regte ihn dazu an, sich neben der sorbischen auch die deutsche Kultur, ihre Geschichte, ihre Mythen und Märchen zu erschließen.

Wie schon die frühen Arbeiten belegen, verspürte Dyrlich seit jeher das Bedürfnis, den gewohnten Alltag literarisch zu überschreiten. Die Legenden seiner zweisprachigen Heimat wurden zum Nährboden, auf dem poetische Metaphern mit universeller Bedeutung gediehen. Einige formale Prinzipien, etwa die ästhetische Verfremdung, schaute er sich bei Klassikern der sorbischen, deutschen und ausländischen Literatur ab, anfangs besonders bei den Polen. Im benachbarten polnischen Staat, wo es nach 1956 zu einer Liberalisierung der Kultur-politik gekommen war, fanden junge sorbische Autoren seit den Siebzigerjahren zunehmend Widerhall.

Um 1980 überprüfte Benedikt Dyrlich erneut sein künstlerisches Weltverständnis. Er trat in die Fußstapfen großer Vorgänger, die ihr höchstes Ziel in der Weckung und Wahrung nationalen Bewusstseins bei den Lausitzer Sorben gesehen hatten. Wie Handrij Zejler, Jakub Bart-Ćišinski, Jan Skala oder Jurij Chěžka stellte er die suggestive Macht moderner Poesie in den Dienst an seinem Volk, dessen Kräfte unter der gewaltsamen oder freiwilligen Assimilation allmählich zu schwinden drohten. Der vierte sorbischsprachige Auswahlband mit dem Titel „W paslach“ (In der Falle) verwies 1986 auf eine Neuerung: „Gedichte und lyrische Prosa“. Die drei vorangegangenen Sammlungen waren, ebenso wie der deutsche Erstling „Grüne Küsse“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1980), reine Gedichtbände gewesen. Mit zwölf eingestreuten Prosaskizzen hatte der
Autor – die vierzig im Blick – nun eine Gattung hinzugewonnen, die seine Ausdrucksmöglichkeiten erweiterte. Die poetischen Reflexionen wurden auf den historischen Prozess ausgedehnt, um über soziale, nationale und kulturelle Widersprüche, über deutsch-sorbische Konflikte, über Gefährdungen in Sein und Zeit neu nachdenken zu können. Es schien, als hätte der Lyriker damit den Schritt von der Beobachtung zur Tat vollzogen. Plötzlich herrschte in den Zeilen ein Duktus von Mahnung, Aufforderung, Appell. Weil die sorbische sprachliche Substanz an einigen Stellen zu bröckeln begann, wollte sie der Dichter mit seinen spezifischen Mitteln stärken. Bis heute hält er es für schwer vorstellbar, sorbische ethnische Identität ganz ohne Bindung an die Sprache zu pflegen. Daher beunruhigt ihn die fortschreitende Assimilation der Sorben an die deutsche Gesellschaft und Kultur, die sich seit den Neunzigerjahren weiter beschleunigt hat.

Während der politischen Wende von 1989/90 engagierte sich Dyrlich für eine pluralistische Demokratie. Er debattierte mit in der außerparlamentarischen Sorbischen Volksversammlung, im Mai 1990 trat er der Sozialdemokratie bei. Gestützt auf eine erprobte Volkspartei, schien ihm das Ringen um sorbische Belange aussichtsreicher. Im Herbst 1990 wurde er für vier Jahre in den Sächsischen Landtag gewählt, er wirkte als kultur- und medienpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Der Schriftsteller setzte sich ein für Grund- und Minderheitenrechte, für eine umweltverträgliche, sozial ausgewogene Ökonomie. (Das Gespür für die Risiken der Braunkohleförderung ist im Osten Deutschlands gerade durch sorbische Intellektuelle geschärft worden.) Von 1995 bis 2011 war er Chefredakteur der unabhängigen obersorbischen Tageszeitung „Serbske
Nowiny“. 1996 bis 2015 führte er ehrenamtlich den Sorbi-schen Künstlerbund mit über 100 Mitgliedern, bereits seit 1979
organisiert er in diesem Kontext jährlich das renommierte Fest der sorbischen Poesie.

Bisher liegen rund 15 Gedichtsammlungen vor, davon acht in obersorbischer und fünf in deutscher Sprache. Hinzu kommen zahlreiche Übertragungen einzelner literarischer Werke, vor allem ins Polnische, Tschechische, Slowakische, Serbische, Ukrainische und Russische. Auch in dem hier edierten Band „Surreale Umarmung“ bleibt sich Dyrlich treu in Inhalt und Form. Ihm gelingt erneut der Spagat zwischen Literatur und Engagement. Wie nebenbei erwähnt er syrische Flüchtlinge und „neue Aufmärsche“, terroristische Anschläge
in Paris lassen ihn keineswegs kalt. Die Gedichte und Prosa-
texte sind zwischen 1974 und 2016 entstanden, die meisten freilich erst in jüngster Zeit.

Einen Schwerpunkt setzt Dyrlich mit seiner „Wortkunst lyrisch und prosaisch“ diesmal beim Thema Dresden, denn „Elbflorenz“, die viel gerühmte sächsische Landeshauptstadt, gelegen unweit des sorbischen Siedlungsgebiets, war nicht nur seine zeitweilige Wirkungsstätte nach Wiedergründung des Freistaats 1990 – dort war, wie der siebzehnseitige Epilog verrät, von 1937 bis 1945 seine Mutter als junge Frau „in Stellung“. Als Dienstmädchen bei einer bürgerlichen, deutsch-evangelischen Familie lernte sie unter anderem den Kaplan Alois Andritzki kennen, einen Sorben und Gegner Hitlers, der 1943 im KZ Dachau als Märtyrer umkam und 2013 seliggesprochen wurde. Dyrlich fragt nun danach, was seine früh verstorbene Mutter von ihrem Leben hatte, und gibt die Antwort gleich selbst: Während er der „Schnitzkunst“ seines Vaters Jakub Dyrlich seit den Achtzigerjahren in Lyrik und Prosa mehrfach nachgespürt hatte, berichtet er hier erstmals –
und recht ausführlich – über die Vita seiner Mutter Monika zwischen sorbischem Dorf und deutscher Metropole. Zu verstehen ist dies wohl als ein Versuch verspäteter, vertrauter „Umarmung“ durch den erwachsenen Sohn.

Gewiss: Trotz aller idyllischen Reiseeindrücke „unter Palmen“, die gerade im zweiten Abschnitt aufscheinen, bleibt das reale Ergebnis von Schreiben und Handeln am Ende wiederum mehrdeutig. Anerkennung und Enttäuschung wechseln einander im öffentlichen Wirken offenbar ab. Doch die beiden Sprach- und Kulturwelten, die dem Sorben zu Gebote stehen, verdoppeln gleichsam die persönliche Bilanz in Dichters Lande. (Vorwort · Dietrich Scholze)