Lyrik

von

Daniel Bănulescus Gedichte, die ich nun schon seit gut eineinhalb Jahrzehnten kenne und hin und wieder übersetze, haben mit der Zeit nichts von ihrer irritierenden, mich herausfordernden und verstörenden Kraft verloren. Ja, mitunter habe ich sogar den Eindruck, sie verschlössen sich von Mal zu Mal mehr, würden mit jeder neu gelesenen und übersetzten Zeile rätselhafter: abstoßend und schön zugleich, werfen sie mich hinaus aus dem Milieu (Universum?), das sie kartografisch abstecken, und werben doch gleichzeitig um meine sinnliche und intellektuelle Beteiligung. Sie scheinen mich ergreifen zu wollen mit zärtlichen und feingliedrigen Wendungen und wollen mich doch auch – einmal ergriffen – durchschütteln, erschrecken und ihres Territoriums verweisen. Böse sprechen und schauen sie mich an, drohen und geben sich grobianisch, um gleich darauf die leise Frage hinterherzuschicken, ob ich denn nicht wüsste, wie anstrengend es sei und welcher Kunstfertigkeit es bedürfe, auf überzeugende Weise böse zu sein.

Ja, doch, ich erinnere mich genau, wie mich vor mehr als zwanzig Jahren Guillaume Apollinaires großes Gedicht Zone, das ich in Gregor Laschens Auftrag übersetzte, in ähnlicher Weise provoziert, angezogen und abgewiesen, entzückt und verärgert hat. Doch damals konnte ich mich dadurch schützen und in einer relativen Sicherheit wähnen, dass ich es mir zeitlich vom Leib hielt. Es war immerhin gut achtzig Jahre vor meinem Übersetzungsversuch geschrieben worden. Die Zeitfalte, die sich zwischen Gedicht und Übersetzer auftat, musste – so sie meine Verstörung nicht erklären und mildern konnte – verantworten und schlucken, was dem heutigen Bewusstsein inkommensurabel vorkam. Es ist gewiss kein Zufall, wenn ich beim Übersetzen der Gedichte Daniel Bănulescus immer wieder an jene Erfahrung mit Apollinaires Gedicht erinnert wurde. Zone, das mehrere Seiten lange Eröffnungsgedicht in Guillaume Apollinaires 1913 erschienenem Band Alcools. Poemes 1898-1913, ist ein hybrider Text, in dem territorial weit auseinanderliegende Eindrücke und Assoziationen ebenso wie zeitlich voneinander getrennte Erfahrungen und Wissensbereiche in die Simultaneität eines Textes gehoben werden. Im Text des Gedichts kohabitieren ganz und gar unverträglich scheinende Sprechweisen: Pathos und Ironie, Gebet und Blasphemie, Lyrismus und Narration. Die schroff und interpunktionslos aneinandergefügten Textschichten (Temperaturen und Referenzen) lassen ein flirrendes Epochenbild entstehen, das ich heute zu lesen verstehen meine. Haben Daniel Bănulescus Gedichte mir etwa dabei geholfen?
Die Erfahrung mit Apollinaires Gedicht hat mir zweifellos einiges an und in Daniel Bănulescus Gedichten verständlicher, erklärlicher und hinnehmbarer gemacht. Hybrid wie die Apollinaires ist auch die Poesiesprache des Daniel Bănulescu, die Narration und Lyrismus, Provokation und Sanftheit, Religiosität und Blasphemie, Sinnlichkeit und Erotismus sowie grobe Zurückweisung, ja Mißachtung und Verächtlichmachen kennt und all dies gleichzeitig in einer Rede zu amalgamieren weiß. Der Körper der Frau wird ihm zum Ort, vielmehr zum Territorium, in dem sich Schönheit und Verderbnis, Begehren und Gewalt, das Sublime und dessen alltägliche Vernutzung und Verwandlung zu Schmutz und Obszönität vollziehen. Als Liebesobjekt, als Gegenstand der Achtung wie des Begehrens scheint er dazu prädestiniert, all die Verwerfungen auf sich nehmen zu müssen, die mit dem rasanten Wandel der gesellschaftlichen Umgangsformen ebenso wie der kulturellen Codes nach der politischen Wende in Rumänien das alltägliche Leben prägen. Wie spricht man, wenn alles plötzlich als völlig selbstverständlich sagbar erscheint und keiner mehr zuhört? Was ist noch irgend geeignet, als provokativ empfunden zu werden, wenn die orthodoxe Kirche Rumäniens in aller Öffentlichkeit Faschisten unterstütz, unbeanstandet Flugschriften gegen Homosexuelle, Juden und Freimaurer verbreitet, Politiker ohne einen Skandal zu erregen, in der Öffentlichkeit den Holocaust leugnen und jüdischen Welt-Verschwörungen alle Übel und Krankheiten des Planeten zuschreiben, wenn die Werbung vor Sexualisierung kaum noch erkennen lässt, dass sie Zahnpasta und nicht willfährige minderjährige Mädchen verkaufen will?
Was hat als obszön zu gelten, wenn die alltäglichen Lebensverhältnisse längst die Grenze zur Obszönität überschritten haben? Kann Poesie unter solchen Umständen einen Raum schaffen, in dem Bildung, Kultiviertheit, Zartgefühl und Verantwortlichkeit überwintern können? Wo Schönheit ihren angestammten Ort findet, herstellbar und vermittelbar bleibt? Und wenn, wie könnte, wie müsste eine solche Poesie aussehen? Vielleicht enthalten Daniel Bănulescus Gedichte hie und da eine der möglichen Antworten auf die eine oder andere dieser Fragen. Vielleicht sind sie so, wie sie sind, um von alledem das vom Gedicht gerade noch zu Tragende aufnehmen und weiterreichen zu können an jemanden, der sich einnehmen lässt von ihrer irritierenden Gestalt, der durch seine Verstörtheit hindurch lesend mit- und weiterdenkt.
Gedichte werden allerdings nicht geschrieben, um als gesellschaftliche Therapeutika zur Anwendung zu gelangen. Sie sind a-sozial: Selbsterfindungsprotokolle eines prekären Selbst, Aufschrei, Einspruch, Beschwörungs- und Verführungsrede, Zauberspruch gar. Sie folgen gewissen Regeln und durch ihre eigene Tradition vermittelten Herstellungsweisen und fordern doch gleichzeitig ihrem Autor eine individuelle Prägung ab, den eigenen Ton, die Identifizierbarkeit – hier etwa in Gestalt des Bănulescu-Sounds, der all das in sich aufnimmt und in seinem Dahinfließen mitspült, was das Ich dieser Texte wahrnimmt, was ihm zusetzt, es euphorisiert oder empört. Daniel Bănulescus Gedichte markieren gewiss eine Randzone; den Rand, den das wache Individuum immer und unter allen Umständen selbst darstellt. Sie erzählen von der erfundenen Autobiografie des Dichters und schwemmen in ihrem Sprechen all die Bedrängnisse mit, die der Freiheit zur Selbsterfindung entgegenstanden. Sie verzeichnen diese Bedrängnisse metaphorisch und stellen Momente von Zärtlichkeit und Empathie her, in denen blitzartig alles zu einem guten Ende zu kommen scheint, aufgehoben in Texten, die von ihrer Begrenzung wissen und deshalb wahrscheinlich nach einem Pathos suchen, das wie von ferne an die großen Zeiten der Dichtung erinnert, als François Villon mit Vladimir Majakowski am Kneipentisch saß und sie nächtelang über Unschuld sprachen, wobei sie sich so hoffnungslos im Buchstabieren dieses Wortes verhedderten, dass es fortan das Gegenteil dessen bedeutete, was es bis dahin zu bezeichnen gewohnt war, und sie in dieser Situation beschlossen, so lange weiter zu trinken, bis da einer käme, der – ja was wohl?

Ernest Wichner