Märchen

von

Der Schriftsteller sitzt nie allein an seinem Pulte — thäte er es, er bliebe ewig allein — mit ihm sitzen der Geist seines Volkes und seiner Zeit, und ihm am allernächsten seine Sprache. Perrault konnte schon im 17. Jahrhundert nicht Märchen schreiben, wie sie die Brüder Grimm in deutscher Sprache und auf deutschem Boden noch zweihundert Jahre später schreiben konnten. Die klassische Periode war schon da, die Sprache fertig und bereits so geartet, wie sie der geistvolle I. I. Ampère charakterisirt: durchsichtig wie Glas, aber auch so unbiegsam. Zu Perrault’s Zeiten mußten bereits Racine’sche Griechen und Römer wie Versailler Hofleute sprechen, wodurch sie selbst zu solchen wurden, und mußte Flechier selbst den Fanatismus, und Bossuet, der lieber den Jesaias gespielt hätte, Religion, deren Politik und Philosophie mit Eleganz und konventioneller Form umkleiden.
Perrault wußte sehr wohl, was er that, und wie er dem Volke Ludwig’s XIV. und in seiner Sprache Märchen erzählen mußte. Von ihm gilt mutatis mutandis, was Wilhelm Raabe bei Gelegenheit unseres I. K. A. Musäus sagt: „Wer das Märchen nicht in naiver Schönheit und Hoheit abschreibt, wie Jakob und Wilhelm Grimm, wer es nicht mit parfümirtem Wasser besprengt, wie Hans Christian Andersen, dem wird sich Orient und Occident in demselben halbironischen Helldunkel bewegen, wie dem Erzähler des achtzehnten Jahrhunderts.“
In seinem Kern, im Ganzen und Großen ist Perrault seinem Volke noch heute so lieb, frisch und lebendig, als er es je gewesen; warum sollte er es nicht auch uns sein, da es, wie die Gemeinschaftlichkeit des Besitzes beweist, gerade in Beziehung auf das Märchen keine nationalen Gränzen und Scheidewände gibt. In der Stimmung, in der man sich Märchen erzählen läßt, ist jeder Mensch Weltbürger, wie das Kind, das Volk und wie das Märchen selbst. — Außerdem gehören ja Perrault’s Märchen in ihrem Keime, mit Ausnahme weniger, zu denjenigen, welche beinahe allen europäischen Völkern eigen sind und deren Ursprung, wie die deutsche Forschung nach- gewiesen, an den Wiegen der indo-europäischen Stämme zu suchen ist, am Ganges, am Fuße des Hymalaya, auf den Höhen Trans. Es ist wunderbar genug, daß diese allein, die mit den Völkern aufwuchsen und mit ihnen alle Veränderungen der Jahrtausende durchmachten, sich als lebensfähig erwiesen, daß hingegen alle „gemachten“ Märchen, und stammten sie selbst aus den Köpfen der größten Dichtergenies, wie wurzellose Pflanzen schnell absterben. Hat je das Volk etwas von Goethe’s Märchen erfahren? Sie sind kaum dem Gebildeten vertraut, während jedes Kind das Dornröschen kennt, das nichts anderes ist, als die Walkyre Brunhilde, die Mutter der Nibelungen-Brunhilde, und wahrscheinlich die späte Enkeltochter einer uraltarischen Göttin aus den Tiefen Asiens. Die Amme, die von Dornröschen erzählt, erzählt eine Weltdichtung, die vor Jahr¬tausenden unter anderen Sonnen Völker mit religiösen Schauern erfüllte. (Moritz Hartmann)

Regie: Toni Nirschl
Ton: Christian Zahler
Musik: Pegelia Gold
Studio: PLAN 1 MEDIA
Illustrationen: Gustave Doré