Mein Leben als Urwaldhebamme

von

Gottes wunderbare Führung in meinem Leben

Im Rückblick auf mein Leben kann ich nur staunen und Gott preisen, der meinem Leben einen festen Grund, einen bleibenden Inhalt und ein unverrückbares Ziel gab. Er hat mich wunderbar geführt und am Leben erhalten und Herzenswünsche nach seinem Plan erfüllt.
Ich wurde am 16. August 1924 in Gotha in Thüringen geboren. Meine Kindheit war nicht leicht, da die Ehe meiner Eltern zerbrach. Mein Bruder und ich litten sehr darunter, ohne Vater aufzuwachsen. Ich erinnere mich noch gut an ein Erlebnis aus meiner frühen Kindheit. Ich muss ungefähr drei oder vier Jahre alt gewesen sein: Meine Mutter betete mit mir. Über meinem Kinderbett hing ein Bild mit einem knienden Kind vor einem Bett und einem Engel, der das Kind beschützte. So kniete auch ich vor meinem Bettchen und betete das Kindergebet, welches meine Mutter mich gelehrt hatte: „Ich bin klein, mein Herz mach rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus allein.“ Ich fragte meine Mutter, ob sie auch dieses Gebet bete, doch sie verneinte es und sagte, sie bete das „Vaterunser im Himmel“. Da horchte ich auf und sagte: „Mutti, dann haben wir also doch einen Vater im Himmel?“
Oft stand ich vor dem Fenster in unserer Man- sardenwohnung und sah in den Himmel hinauf. Ich wollte doch so gern Kontakt zu meinem Vater im Himmel haben. Und wieder waren Wolken am Himmel, und ich konnte meinen Vater nicht sehen. Mein Kinderherz hatte sehr darunter gelitten.
Jahre später entdeckte ich beim persönlichen Bibellesen im Epheserbrief, Kapitel 3, die Verse: „Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden.“ In der Bibel, die ich immer mehr schätzen und lieben gelernt hatte, stand also, dass ich einen richtigen Vater hatte. Mein Herz jubelte. Wie wunderbar wusste Gott an jenes Erlebnis aus den frühen Kindheitstagen anzuknüpfen!
Schon als Kind hörte ich mit großem Interesse die biblischen Geschichten, die uns zwei Diakonissen jeden Sonntag erzählten. Besonders die Missionsgeschichten und Biographien gesegneter Missionare, wie zum Beispiel Friedrich Traub und Hudson Taylor, oder die Missionsberichte der Missionare der Marburger Mission, die in Yünnan (China) waren, fesselten mein Kinderherz. Ich kannte sie alle mit Namen und betete für sie. Das Missionieren übte ich auch selbst, indem ich anderen Kindern erzählte, wie sehr der Herr Jesus sie liebte. Natürlich sang ich mit Inbrunst: „Da draußen bei den Heiden scheint die Sonne so heiß, da lebt so manches Kindlein, das vom Heiland nichts weiß.“ Und erst recht: „Sterbend ein armer Zigeunerknab’ wacht, ihm ward die Botschaft des Lebens gebracht, hell horcht er auf, ist es Wahrheit, er fragt: Niemand hat je mir vom Heiland gesagt.“ Dann der Kehrreim: „Sag’s noch einmal, sag’s noch einmal, sag’s immer wieder, bis keiner mehr klagt: Niemand hat je mir vom Heiland gesagt.“
Als ich ungefähr elf Jahre alt war, erzählte uns eine Missionarin, die gerade in Deutschland war, mit strahlendem Gesicht von ihrem entsagungsvollen Dienst für Jesus. Sie berichtete von ihrer achtjährigen Gefangenschaft in Sibirien, von Wanzen, Flöhen und anderem Ungeziefer und von mancherlei Entbehrungen. Sie hatte solch eine Ausstrahlungskraft, dass ich sie heute noch im Geiste vor mir sehe. Während ihrer Verkündigung vernahm ich das erste Mal das Werben Jesu und die Frage: „Wärst du bereit für solch einen Weg?“ Ich bejahte seine Frage in meinem Herzen, so hatte sich mein Kinderherz Mission vorgestellt, und dafür war ich bereit.
Das alles geschah, bevor ich selbst eine klare Entscheidung für Jesus getroffen hatte. Dabei wollte ich doch gerne Jesu Eigentum werden. Aber wie sollte das zugehen?
Etwa so, wie uns die Schwester eines Tages berichtete?
„Die Ruth hat heute ihr Herz dem Heiland geschenkt.“
Ich schaute mir die Ruth an und dachte: „Nein, ich möchte einmal nicht ohne Herz herumlaufen.“ Ob es da nicht auch noch einen anderen Weg gab? Doch, den gab es. Aber zunächst „evangelisierte“ ich auf meine Weise weiter und die Liebe zu Jesus und zu seinem Wort wuchs dabei und ließ den Entschluss in mir reifen, mein Leben ganz unter die Führung Jesu zu stellen. Langsam wurde mir beim Lesen des Wortes Gottes immer klarer, dass Jesus nur die Sünder annimmt. Aber ich wollte doch als eine Gute zu ihm kommen, was hatte ich nicht alles angestellt, um gut zu werden!? Nun, die Erkenntnis, dass mein Herz sündig ist, ging mir erst nach und nach auf und weckte die Heilandsbedürftigkeit umso mehr in mir, sodass ich mit 16 Jahren während einer Missionskonferenz aus tiefster Überzeugung mein Leben ganz bewusst unter Gottes Führung stellte. Gottes Wort hatte nicht nur meinen Kopf, sondern auch mein Herz erreicht.
Es waren besonders zwei Gottesworte, die tief in mein Herz fielen: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen“ (Sprüche 23,26) und aus Epheser 6,15 „[…] an den Beinen gestiefelt, bereit einzutreten für das Evangelium des Friedens.“
Beide Worte prägten mein weiteres Leben. Ich hatte Vergebung meiner Sünden erfahren und freute mich über die Gewissheit, jetzt ein Kind Gottes zu sein.
Der Gedanke, Jesus einmal in der Äußeren Mission zu dienen, gewann immer mehr Gestalt in mir. Ich wollte den Weg allerdings nicht allein gehen, sondern an der Seite eines Missionsarztes, den ich mir vorzustellen versuchte. Ich kannte keinen. Doch dieser wunderschöne Traum lebte in meinem Herzen und bewahrte mich davor, mein Leben zu vertändeln. Ich wollte lernen, so viel ich konnte, um für den Missionsdienst brauchbar zu sein. Dazu musste mir der Herr Jesus in der Schule des Lebens allerdings noch die richtigen Stiefel verpassen.
Nach meinem hauswirtschaftlichen Examen war ich zwei Jahre, von 1941–1943, in den Alpen bei einer kinderreichen Familie tätig und erzählte den Kindern, die unermüdliche Zuhörer waren, mit brennendem Herzen von Jesus.
Anschließend führte mich mein Weg in die Kinderklinik nach Nordhausen, um dort von 1943–1945 die Ausbildung zur Säuglings- und Kleinkinderschwester zu absolvieren. Das war ein Dienst nach meinem Herzen. Die Klinik wurde von Diakonissen geleitet, die ich sehr schätzte – kannte ich doch Diakonissen von Kindheit an durch den Besuch der Sonntagsschule.
Damals hatte ich sie allerdings nur im Sonntagskleid kennengelernt, und jetzt stand ich im Alltag hautnah neben ihnen. Ich bewunderte sie, wollte aber selbst nie eine werden. Ich hatte ja meinen Missionsarzt im Herzen und wollte Mutter werden. Oder sollte ich doch Diakonisse werden? Über viele Monate tobte dieser Kampf in meinem Herzen. Sollte ich etwa mein ganzes Leben lang schwarze Strümpfe, lange Kleider und immer nur Mittelscheitel tragen und niemals Mutter werden dürfen? Nein, das wollte ich nicht! – und damit war das Thema „Diakonisse“ für mich abgehakt. Wirklich? Bei mir vielleicht, aber nicht bei Gott.
Es war 1945. Das Examen war erfolgreich bestanden, aber der Krieg war noch nicht zu Ende. Tag und Nacht wurden wir durch Voralarm und Vollalarm auf Trab gehalten, weil wir alle Kinder in den Keller tragen mussten und dort verharrten, bis die Sirenen Entwarnung gaben.
Am 3. April um 17.00 Uhr geschah es dann: Unsere Kinderklinik war einem Bombenangriff ausgesetzt!
Kurz zuvor hatte ich noch unverhofft Besuch von meinem Bruder Hans bekommen, der anschließend wieder zu seiner Truppe nach Ellrich zurückkehren musste. Da ertönte Voralarm! Ich bat ihn, in meinem Zimmer zu warten, bis wir Schwestern alle Kinder im Keller hätten, da dies bereits bei Voralarm geschehen musste. Anschließend wollte ich mich um ihn kümmern. Mein Zimmer lag im obersten Stockwerk unter dem Dach. Dann, plötzlich, binnen weniger Minuten: ein Volltreffer! Ohne Vollalarm.
Eine nahezu 50 Zentner schwere Sprengbombe machte die Klinik in wenigen Augenblicken dem Erdboden gleich und wir, 40 Schwestern und 160 Kinder, waren verschüttet. Mein erster Gedanke war: Mein Bruder ist tot. Ich hatte ihn ja noch gebeten, in meinem Zimmer zu warten. Er hatte jedoch das Angriffszeichen am Himmel gesehen und blitzschnell noch Kinder mit in den Keller getragen. Als er auf der letzten, oberen Stufe gestanden hatte, war er vom Trümmergeröll überschüttet worden. Doch er konnte sich herausbuddeln und mit einem Mal ertönte im Keller laut seine Stimme: „Wo ist meine Schwester?“ Er war gerettet.
Von da und dort konnte man laute Gebete vernehmen, ein Rufen und Schreien nach Befreiung. Ich konnte nicht laut beten, aber ich flehte in meinem Herzen zu Gott und versprach ihm, wenn er mich am Leben erhalten würde, dann würde ich ihm dienen, selbst als Diakonisse. Ich hatte noch nicht innerlich „Amen“ gesagt, als bereits die nächste Sprengbombe neben unserer Klinik einschlug. Durch den Luftdruck bei der Explosion wurde ein kleines Kellerfenster zerstört, und etwas frische Luft strömte herein – das war unsere Rettung. Für mich war es jedoch die sofortige Antwort auf mein gestammeltes Gebet. Selten hatte ich eine so prompte Gebetserhörung erlebt. Mein Bruder konnte uns noch helfen, einen Ausgang aus den Trümmern zu finden, bevor er spät am Abend zu seiner Truppe zurückkehrte. Wie dankbar war ich, dass kein Mitarbeiter unserer Klinik und auch kein Kind bei diesem Angriff ums Leben gekommen war.
Gott hatte uns alle am Leben erhalten. Allein das war ein großes Wunder.
Doch wie war es nun mit der Versorgung der Kinder? Der Bombenangriff erfolgte gegen 17.00 Uhr. Es war inzwischen dunkel geworden und uns war klar, dass wir die Nacht unter den Trümmern zubringen mussten. Die Kinder schrien und hatten Hunger. Sie waren es ja gewöhnt, immer pünktlich ihre Flaschennahrung zu bekommen. Und jetzt? Das Unglaubliche war geschehen: Der große Kühlschrank, der in der Milchküche seinen Platz hatte, ragte wie ein Denkmal ein kleines Stück aus den Trümmern heraus. In ihm waren die Säuglingsflaschen für 24 Stunden für alle Stationen aufbewahrt. Jede Flasche hatte die Nummer des Kinderbettes, sodass keine Verwechslung vorkommen konnte. Wir buddelten den Kühlschrank frei und erlebten das unbeschreiblich große Wunder, dass alle Flaschen aus Jenaer Glas unversehrt vor uns standen. Nicht eine einzige war entzwei. Gott musste einen Schutzwall von Engeln um den Kühlschrank gestellt haben.
Unter Tränen dankten wir Gott für sein großes Erbarmen mit uns. So konnten wir die Kinder noch bis in den nächsten Tag hinein mit Nahrung versorgen. Da kamen dann auch schon die ersten Eltern und Angehörigen, um ihre Kinder abzuholen. Sie waren unendlich dankbar dafür, dass sie am Leben geblieben waren. Alle anderen Kinder brachten wir in das wenige Kilometer entfernte Auffanglager nach Buchholz, das dafür vorgesehen war. Es regnete in Strömen, doch der Gott, der uns alle am Leben erhalten hatte, gab uns auch die Kraft für diesen Kindertransport.
Unsere Stadt war ein einziges, großes Trümmerfeld. Viele Menschen lagen tot auf den Straßen, andere waren unter den Trümmern verschüttet. Und mich hatte Gott am Leben erhalten – wie unbegreiflich. Wer war ich? Ich war nicht besser als die, die ihr Leben auf so brutale Weise verloren hatten. Ich wurde an Gottes Wort aus Jesaja 43, die Verse 1 und 4 erinnert: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! … Ich gebe Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben.“ Dieses Wort wurde mir zum Fundament für meine Berufung.
Aber noch etwas Entscheidendes war geschehen: Mein wunderschöner Traum vom Missionsarzt war wie eine schillernde Seifenblase zerplatzt – und er tauchte nie wieder in meinem Herzen auf. Gott selbst hatte den Stellenwert verschoben und neue Prioritäten gesetzt. Ihm ging es um den Gehorsam in meinem Leben. Bei mir stand zwar Mission an erster Stelle, aber Gott ging es um meine Zubereitung für den Dienst in der Mission. Rückblickend sehe ich, wie Gott dieses Ziel schon von meiner Kindheit an verfolgte. Jeder Dienst, jedes Erlebnis, alles war Vorbereitung für den nächsten Schritt und gab mir Durchhaltekraft und Stehvermögen.
Ich legte bewusst das Eheglück und die Mutterschaft als ein lebendiges Opfer auf Gottes Altar und ging noch im selben Jahr, am 2. Oktober 1945, ins Mutterhaus nach Elbingerode. Diese Entscheidung habe ich nie bereut. Sie ist wohl immer wieder einmal auf den Prüfstein gekommen, aber sie ist bis heute ein lebendiges Opfer geblieben.
Vor meinem Eintritt hatte ich noch geholfen, unsere Trümmer mit abzutragen. Das war Schwerstarbeit. Welch ein Geschenk und welch große Freude, als ich dabei als Erstes meine persönliche Bibel wiederfand.

Ich sollte noch eine andere bleibende Lektion für mein Leben lernen, die mir Gott anhand eines unauslöschlichen Erlebnisses am Weihnachtsfest 1946 tief ins Herz prägte.
Nach dem ersten halben Jahr im Mutterhaus war ich nach Nordhausen versetzt worden. Eine Schwester in meinem Alter und ich hatten das Vorrecht, zu Weihnachten ins Mutterhaus nach Elbingerode fahren zu dürfen. Welch eine Freude war das für uns, allerdings sollten wir am Nachmittag des 24.12. nach Nordhausen zurückkehren, da wir beide am ersten Feiertag zum Dienst eingeteilt waren.
Wir genossen das Zusammensein im Schwesternkreis und blieben natürlich bis zur letzten Minute im Mutterhaus. Bis zum Bahnhof nach Drei-Annen-Hohne mussten wir allerdings fünf Kilometer laufen, und in der Nacht war Neuschnee gefallen. Hinzu kam, dass wir einen Reisekorb und einige Taschen voll Gepäck mitnehmen sollten, da man in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur selten solche Fahrten unternahm. Man muss den Harz kennen, um sich in unsere Lage versetzen zu können. Im Sommer ist der Weg von Elbingerode nach Drei-Annen-Hohne ein wunderschöner Spazierweg, aber im Winter im tiefen Schnee eher ein Abenteuer. Es fuhr an diesem Tag nur ein Zug, den wir erreichen mussten. Doch es lag nicht nur Neuschnee, sondern die Straße war auch noch frisch gestreut, sodass wir mit unserem Schlitten und all dem Gepäck kaum von der Stelle kamen. Da wurde ich an einige Abkürzungswege erinnert, die bestimmt nicht gestreut waren. Herrlich! Wir kamen in den Rillen der Skispuren ziemlich zügig voran, doch wohin führte der Weg der Skispuren? Wir verloren die Orientierung und gerieten immer tiefer in den Wald hinein.
Plötzlich hörten wir unseren Zug aus weiter Ferne pfeifen. Was nun? Zurück? Nein, diese Blöße wollte ich mir nicht geben. Das wäre eine zu große Demütigung.
Also stapften wir weiter durch den Schnee. Eine Stunde nach Abfahrt des Zuges waren wir am Bahnhof in Drei-Annen-Hohne. Wir ließen den Schlitten dort, gaben den Reisekorb auf und liefen mit unseren Taschen auf den Bahnschwellen weiter nach Elend, zur nächsten Bahnstation. Es war inzwischen 19.00 Uhr und dunkle Nacht, und müde waren wir auch. Damals gab es in Elend nur ein Hotel, wo wir für die Nacht einen Unterschlupf suchten. Der freundliche Wirt zeigte uns ein Zimmer, natürlich eiskalt, mit unbezogenen Betten, und er bot an, unsere Strümpfe am Herd zu trocknen.
Wir fragten uns: „Wie konnte das passieren?“ Ja, der Weg war schlecht und schwer, aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich selbst schuld an der ganzen Misere war.
Ich war davon überzeugt, dass wir ohne weiteres 40 km nach Nordhausen laufen könnten. Es waren nicht die ersten 40 km, die ich im Leben zurücklegt hatte, aber ich war gerade mal einen Sommer lang in Elbingerode und hatte dort noch keinen Schnee erlebt.
In einem Rucksack, den wir hatten mitnehmen sollen, waren ein Paar Stiefel. Sie gehörten dem Bruder unseres damaligen Direktors, Pfarrer Haun. Da sie aber meiner Mitschwester, der die Füße schon sehr weh taten, genau passten, riet ich ihr, die Stiefel anzuziehen. Buße mussten wir so oder so tun, da machte ein Paar getragene Stiefel nun auch keinen Unterschied mehr.
Schlaf fanden wir keinen in jener Nacht, und als wir am nächsten Morgen unsere Strümpfe vom Wirt holen wollten, waren diese verbrannt. Auch das noch! Gut, dass wir noch ein Paar dabei hatten.
Wir liefen also weiter, zunächst nach Sorge und dann in Richtung Beneckenstein. Dort mussten wir noch an einer gefährlichen Stelle vorbei, an der schon viele Frauen vergewaltigt worden waren – doch wir kamen unbehelligt durch. Schließlich machte sich unser hungriger Magen bemerkbar. Nur gut, dass wir unsere Weihnachtsplätzchen vom Mutterhaus dabei hatten. Wir setzten uns auf einen Kilometerstein und machten Rast bei Plätzchen und kaltem Schnee als Getränk. In Ilfeld kletterten wir entkräftet in einen eiskalten Zug, der am Abend nach Nordhausen fahren sollte. Die letzten 15 km! Vorher waren wir noch an einer Kirche vorbeigekommen, aus der gerade das Lied ertönte: „In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet!“ Ja, das hatten wir erlebt!
Unsere Schwestern in Nordhausen hatten uns schon als vermisst gemeldet. Nun waren sie, trotz aller durch uns bereiteten Not und Enttäuschung, froh und dankbar, dass wir wieder da waren, und am nächsten Tag hatten wir Dienst. Das war eine schmerzliche, aber heilsame Lektion für mein Leben: Eigene Wege führen immer ins Elend, ob der Ort nun Elend heißt oder nicht, und Gott erspart uns auch nicht die Buße für unsere eigenen Wege.
Darum wurde es mir auch so wichtig, mir nicht einen eigenen Weg aus der DDR zu suchen. Viel zu tief steckte jenes Erlebnis in meinem Herzen, und es bewahrte mich auch später manches Mal vor einem eigenen Weg.

In den nächsten neun Jahren arbeitete ich als frohe und dankbare Diakonisse, der Gott schon einige Paare Stiefel angezogen hatte, in den verschiedensten Bereichen: Kinderarbeit, private Wochenpflege, Gemeinschaftsarbeit, Seelsorgedienste in Rüstzeiten und Evangelisationen. Mein Herz brannte jedoch in der ganzen Zeit weiter für die Mission. Würde sich je ein Weg und eine Möglichkeit dafür abzeichnen? Ich klammerte mich weiter an Gottes Verheißung, „denn auf alle Gottesverheißungen ist in ihm das Ja“ (2. Korinther 1,20). Sein Wort und manche Glaubenslieder und Aussprüche prägten mein Leben, unter anderem der Satz: „Jede recht verbrachte Wartezeit bringt einen köstlichen Gewinn in unser Leben.“
An Anfechtungen und Glaubenskämpfen fehlte es dabei jedoch nicht. Sie verstärkten sich noch, als 1952 unsere Missionare aus politischen Gründen China verlassen mussten. Was nun? Wollte Gott doch nicht, dass ich ihm in der Äußeren Mission diente? Ein einziges Fragen und Ringen brach in meinem Herzen auf: Hatte ich mich geirrt? Oder hatte Gott sich etwa geirrt? Nein, das konnte nicht sein!
So wurde ich eines Tages von unserer damaligen Hausmutter gefragt, ob ich auch bereit sei, nach Brasilien statt nach China zu gehen. Doch warum gerade nach Brasilien? Und wieder war es Gottes Wort, das mir Hilfe und Wegweisung gab, denn ich stieß auf Apostelgeschichte 16. Gott hatte sein Ziel nicht geändert, auch wenn er die Führung in ein anderes Land gelenkt hatte.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich lediglich von unserer Missionsarbeit in China, von Brasilien hatte ich noch nichts gehört, außer, dass es in Südamerika lag. Was für Menschen lebten dort? Was für eine Sprache wurde dort gesprochen und welche Missionare dienten dort?
Ich erbat mir eine Bedenkzeit und setzte mich intensiv damit auseinander. Dafür hätte ich gerne schriftliches Material gehabt, doch das war in der DDR nicht aufzutreiben. Schließlich gab ich im Glauben und Vertrauen auf den Herrn mein Ja.
Aber ich lebte immer noch in der DDR. Wie sollte ich sie je verlassen, ohne die Grenze schwarz zu überschreiten? Das wollte ich nicht. Nein, einen eigenen Weg wollte ich nicht mehr wählen, dafür hatte ich eine zu schmerzhafte Lektion erfahren! Wenn es wirklich Gottes Weg mit mir war, dann war es ihm auch möglich, mir eine legale Ausreise zu ermöglichen und ich brauchte nicht nachzuhelfen. Aber je länger desto unmöglicher erschien eine legale Ausreise. Weiter warten und auf Gott vertrauen, auch gegen alles Sichtbare, war fortan meine Glaubensdevise. Mit großer Freude lernte ich viele Gottesworte, Psalmen und zusammenhängende Bibeltexte auswendig. Sie stärkten mein Herz und befreiten mich von aufkommenden Zweifeln. Ich tat weiter froh meinen Dienst für Jesus, immer in der Gewissheit „Ist die rechte Zeit nur da, so wird alles lauter Ja.“ (Benjamin Schmolck)
Auf wunderbare Weise durfte ich dieses „Ja“ Gottes im Januar 1955 erleben. Als einzige Diakonisse konnte ich auf legalem Weg die DDR verlassen. Das war eine unumstößliche Bestätigung des Willens Gottes für meinen weiteren Lebensweg – ich wusste mich gewiss geführt.
Zwei Monate später konnte ich auf einem deutschen Frachter nach Brasilien reisen.