»Wenn Lea also genug Kleingeld beisammen hatte, ging sie auf den Markt. Sie lief ein bisschen zwischen den Reihen hin und her und kaufte dann meist duftende rote Walderdbeeren mit grünen Schwänzchen. Die Marktfrau reichte ihr die Beeren in einer Tüte aus Zeitungspapier.« Lea, die Chronistin von Melonenschale, ist bereits sieben Jahre alt und es hat sie und ihre Familie nach Moskau verschlagen, nein eigentlich in den Vorort Woskressensk, wo sie in einer staubigen Siedlung untergekommen sind und Lea sich erstmal als »Emigrantin« fühlt. Angefangen hat ihre Geschichte im menschenüberfüllten, farbenprächtigen aserbaidschanischen Baku, wo sie als Tochter ihrer jüdischen Mutter Selda Perlschtein und ihres armenischen Vaters Akop Tschachmachtschew auf die Welt kam. Die Kriegsjahre werden sie nach Baschkirien, dann nach Stalingrad führen. Später wird sie viele Jahre in Prag verbringen, von dort mit ihrer Familie als politische Emigrantin nach Hamburg gelangen — zurückbleiben mußte auf dieser letzten Etappe das alte Klavier, ein Familienheiligtum, das immerhin bereits die Wirren der Oktoberrevolution überstanden hatte. »Dann flüchteten sie aus Prag und waren überzeugt, daß sie niemals wieder zurückkehren könnten. Schimon wurde wegen Republikflucht verurteilt, und all ihre Sachen wurden beschlagnahmt, das Klavier natürlich auch. Indem sie sich selbst retteten, ließen sie es im Stich. Wo es jetzt steht und bei wem, ist unbekannt.« Der Stoff von Melonenschale ist offen autobiographisch — Lea ein literarisches Alter Ego der Autorin Rada Biller, die über all die Jahre hinweg in geschliffenen literarischen Impressionen ihre Erfahrungen festgehalten hat. Aus den vielfältigen Mosaiksteinen hat sie behutsam den Roman eines Lebens zusammengesetzt, dessen Leitmotiv Verlust und Neubeginn darstellen.
- Veröffentlicht am Sonntag 1. Mai 2005 von Berlin Verlag Taschenbuch
- ISBN: 9783833302992
- 384 Seiten
- Genre: Belletristik, Romanhafte Biografien