Montenegrinische Geschichten

Die verlorene Unschuld

von

2010 reiste Gerhard Blaboll anlässlich einer Literaturehrung durch Montenegro, um dort serbokroatische Übersetzungen seiner Texte vorzutragen. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er nicht nur zahlreiche Parallelen zwischen Geschichte und Gesellschaft Montenegros und der mitteleuropäischer Länder, sondern auch im Verhalten der hier wie dort lebenden Menschen.
Eingerahmt von einer Einleitungsgeschichte und einer Abschlussgeschichte beschreiben achtzehn Kurzgeschichten Szenen aus dem Alltagsleben von Montenegrinern. Sie schildern Erlebnisse, Sorgen, Bedürfnisse und Verhalten von Menschen, während sich im Hintergrund gerade Weltgeschichte ereignet: Die Schlacht auf dem Amselfeld, die diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen Venezianern und Osmanen um die Vormachtstellung an der Adriaküste, die Gründung des Fürstentums Montenegro beim Berliner Kongress, der Balkankrieg, der Zerfall Jugoslawiens usw. Dass die letzte Geschichte zukunftsweisend im Jahr 2031 spielt und das Buch 2013 publiziert wurde, darf durchaus als Hommage an George Orwells 1984 verstanden werden, das bekanntlich 1948 entstanden ist.
Die leicht lesbaren Geschichten sind zwar für sich selbst jeweils unabhängig, aber inhaltlich und personell doch miteinander verwoben. Wie ein durchgehender roter Faden sind hinter den Szenen Motive von Menschen skizziert, die bewusst oder unbewusst den Schritt von der Unschuld zur Schuld gehen. Die Proponenten der Geschichten sind oder waren großteils real existent und beinahe durchgehend anonymisiert: Der gelangweilte Schüler, der eine Strafe absitzen muss; der liebende alte Mann, der seine Frau mit einem Hausumbau überraschen möchte; der LKW-Fahrer, der Schmuggelware transportiert und verhaftet wird; die Hotelbesitzerin, die zur Puffmutter wurde; der Priester, der Ikonen unterschlägt und verkauft; der venezianische Statthalter, der mit den Osmanen verhandelt; der serbische König, der wie Franz Ferdinand im offenen Wagen während eines Staatsbesuchs erschossen wird; die Frau, die bosnischen Flüchtlingen im Jugoslawien-Krieg hilft; der Mann, der den Kampf gegen sein versperrtes Fahrrad verliert – sie alle und noch viel mehr leben mitten unter uns oder haben tatsächlich existiert.
Da die Geschichten keine Kenntnis der Geschichte Montenegros voraussetzen und auch keine der Geographie dieses Landes, verdeutlicht eine Landkarte die Lage der Orte.
Für historisch, philosophisch oder geographisch interessierte Leser ist dieses Buch aufgrund der zahlreichen angedeuteten Details ein literarischer Leckerbissen. Für Liebhaber gehobener Belletristik beinhaltet es einfach eine stimmige Sammlung spannender Geschichten, die eines gemeinsam haben: Man kann in eine andere Welt eintauchen, sich darin verlieren und bekommt den Wunsch nach immer mehr dieser literarischen Kleinode.