Moritz

Mit Flügeln dem Leid entfliehen

von

Moritz, der junge Familienvater, hatte einen Unfall erlitten, wie er für jedermann und zu jeder Zeit möglich sein kann. Und was zu diesem Zeitpunkt mit einem Unfall begann, wurde in der Folge zum FALL mit schwersten Schädel-Hirnverletzungen mit „apallischem Syndrom“, d. h. Funktionsausfall der Großhirnrinde bei Erhalt der Versorgung lebenswichtiger Zentren wie Atmung, Herz-Kreislauf, Verdauung. Der davon betroffene Mensch ist vollkommen hilflos, in allen Bereichen pflegebedürftig. Eine Heilung ist derzeit nicht möglich. Monatelanger Aufenthalt auf der Intensivstation und im Krankenhaus erbrachte keinerlei Besserung. Ver¬suche einer Rehabilitation über fast zwei Jahre hinweg wurden durch ein Psychosyndrom erschwert, praktisch vereitelt. Der Aufenthalt in einer Spezialklinik wurde nach vier Tagen abgebrochen. Versorgung in häuslicher Pflege zerstörte die Familien. Hilferufe bei der Poli¬tik offenbarten die Orientierungslosigkeit des Gesundheitssystems.
Öffentlichkeitsarbeit verhallte ohne Echo. Keinerlei Heim oder Einrichtung war für die Aufnahme des Schwerstbehinderten bereit. Nur nach Überwindung größter Schwierigkeiten konnte eine Aufnahme in der Psychiatrie erfolgen. Dort vegetierte Moritz über Jahre hinweg. Was geht im Innern eines Menschen, seiner Seele vor angesichts der demonstrativen Unfähigkeit, einen solchen FALL zu meistern? Nach fast achtjähriger Odyssee konnte Moritz in der Stiftung Liebenau aufgenommen werden. In Erkenntnis der Versorgungslücke wurde dort in der St. Lukas-Klinik eine Station eröffnet zur Betreuung von Personen mit erworbenen Hirnschäden. Die konsequente Realisierung des Leitmotivs „In unserer Mitte – der Mensch“ bewirkte bei Moritz eine Wende: Im Laufe der Zeit konnte er, der innerlich total zerrissene Mensch, ruhiger werden, sich festigen, Humor entwickeln und eine positive Ausstrahlung darbieten. Nach 13 Jahren der Aufwärtsentwicklung hatte er sein Ende geahnt und diese Vorahnung an seine Umgebung weitergeben können. In tiefem Frieden konnte er seinen geschundenen Körper erlösen, welcher so viele Fragen aufgeworfen hatte. Dieser kranke, innerlich einsame Mensch konnte eine Überwindung vollziehen, welche unserer Naturwissenschaft nicht möglich war. Er konnte etwas bewirken, zu dem wir mit all unserem Wissen und Können nicht fähig sind.

Der Autor – Vater von Moritz – war veranlasst, das Ganze zu begleiten. Vieles war entsetzlich. Die bei dem FALL gewonnenen Einblicke betrachtet er als Gnade.