Editorial Unsere Hommage an Sigmund Freud anläßlich seines 150. Geburtstags am 6. Mai beginnt mit einem bisher unveröffentlichten Text von Freud selbst. Entstanden wohl 1931 im Kontext der Vorarbeiten zu einem Buch über den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1913–1921), für das William C. Bullitt sich Ende der zwanziger Jahre der Mitarbeit Freuds versichern konnte, stellt sich dieser gedrängte Abriß in die Reihe von Freuds einführenden Kurzdarstellungen der Psychoanalyse. Ilse Grubrich-Simitis leuchtet den Kontext dieses bislang unbekannten Texts aus und führt in ihrem Beitrag über Freud als Sprachforscher und Schriftsteller vor Augen, auf welche Weise sich Freud am Schreibtisch von den ersten Notizen über Entwürfe zu den druckfertigen Reinschriften bewegte. Diesen Einblicken in die gedankliche und sprachschöpferische Arbeit Freuds, gewonnen aus einem genauen Studium der Manuskripte, stehen Georges-Arthur Goldschmidts weiter ausgreifende Beobachtungen über die Unterschiede zwischen dem Französischen und dem Deutschen als Sprachen im Vorfeld psychoanalytischer Begriffsbildung und Analyse zur Seite.
Wie immer im Rückblick auf die letzten hundert Jahre die Akzente auch gesetzt werden: Die Psychoanalyse ist jedenfalls eine Erfolgsgeschichte. Welche andere Theorie könnte beanspruchen, auf akademischem Boden gut eingewurzelt zu sein und gleichzeitig über viele Ausleger den Weg bis in tiefliegende Schichten populärer Kultur gefunden zu haben. Hans Blumenberg hat Freuds Metaphorik von Verhüllung und Enthüllung im Blick, wenn er darauf hinweist, daß Grundannahmen Freuds zu tief eingedrungen seien in das Selbstverständnis des letzten Jahrhunderts, als daß man sie der Psychoanalyse noch eigens zuschreiben müßte. Aber gerade deshalb lohnt der Blick auf Freuds Texte bei einem Autor wie Blumenberg, der in rhetorischen Figuren und Metaphern grundlegende und noch vorbegriffliche Orientierungen von theoretischen Ansprüchen aufzuspüren und zu erläutern wußte. Auch dieser Text aus dem Nachlaß des vor zehn Jahren verstorbenen Philosophen – sein Todestag ist der 28. März – erscheint hier zum ersten Mal.
Freud und Wittgenstein – zwei Jahrhundertfiguren von sehr unterschiedlicher Wirkung: Der Philosoph ist gnadenlos, wenn es um Freuds theoretische Ansprüche geht – und doch begegnet er Freud gleichzeitig mit tiefem Respekt. Wie das zusammengeht, führt Matthias Kroß vor Augen, indem er die fundamentalen Differenzen ebenso betrachtet wie manche Parallele von psychoanalytischer Technik und philosophischer Therapie in der Spät-philosophie Wittgensteins.
Für Freud selbst stand die psychoanalytische und allgemeiner jede psychologische Theorie unter dem Vorbehalt, daß erst die zukünftige Entwicklung der Biologie würde zeigen können, ob und wie psychologische Termini und Hypothesen sich biologisch fundieren lassen. An diese Zielvorstellung kann anschließen, wer die zeitgenössische Hirnforschung mit der Psychoanalyse ins Gespräch bringen möchte. Wie das Feld der entsprechenden Unterhandlungen, Angebote und Erwartungen aussieht, stellt Michael Pauen in seinem Beitrag an einigen Beispielen dar. Mit handfesten Ergebnissen darf man da einstweilen nicht rechnen. Aber die Diskussionen sind eröffnet, und der Rückblick auf den Begründer der Psychoanalyse verknüpft sich an dieser Stelle zwanglos mit dem Ausblick auf eine Facette künftiger Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse. Helmut Mayer‹/i
- Veröffentlicht am Freitag 31. März 2006 von S. FISCHER
- ISBN: 9783108090647
- 208 Seiten
- Genre: Belletristik, Essays, Feuilleton, Interviews, Literaturkritik, Loseblatt-Ausgabe, Zeitschrift