Nie ist die Nacht so dunkel wie in der Kindheit

von

‚ Schwarz-weiss ist nicht farblos. Es ist das Mediumdes Lichts, keine Reduktion sondern eine Konzentra tionauf das Wesentliche ‚, so Peter Stamm in seinemEssay zu Nie ist die Nacht so dunkel wie in der Kindheit.Wie schon in Marcel Gählers erstem Künstlerbuch,Bleistift auf Papier, wo er sich mit Abbildungen vonunspektakulären, meist nächtlichen Orten beschäftigte,geht er auch hier von kleinforma tigen Schwarzweissfotografien aus, die er in originaler Grösse abzeichnet.Der Abbildungsprozess ist aller dings eine Stufekomplexer geworden. Gähler foto grafi ert, projiziert dannseine Bilder auf ein Tuch, das er an der Wand aufspannt,fotografi ert dieses Dispositiv samt Umraum und verwendetschlies slich das Licht bild als Vorlage seinerspektakulären, obsessiv minutiösen Bleistiftminiaturen.Die höchst privaten Sujets der ursprünglichen Fotografien — alltägliche Szenen des Familiären, Kinder inintimen Interieurs, schlafend oder beim Spiel, aneiner nächtlichen Feier, auf einer Wiese, am Strand —rücken damit in eine gewisse Distanz und werdenin der leicht verklärenden Un schär fe dieser bleistiftgrauenErinnerungsferne zugleich dramatisiert und —im Wortsinne — als Projektionsfl äche magisch aufgeladen.Marcel Gählers Zeichnungen sind radikal intimund entziehen sich dennoch jeder anekdotischen odervoyeuristischen Wahrnehmung. Sie inszenieren sichzwar als Blicke auf eine familiäre Diaschau und potenzierendamit den rituellen Charakter der hier zelebriertenFamilienfotografi e. Aber nicht nur die reizvollenikonografi schen Bezüge — etwa zu Albert AnkersKinderbildern —, sondern vor allem die virtuose Transponierungin ein Gewebe aus Bleistift-Texturen, inein Spiel aus bleigrauen bis bleischwarzen Intensitätsstufenentrückt sie der privaten Sphäre, macht siezeitlos und kollektiv.