Orientierungen – Zeitschrift zur Kultur Asiens

Neue Grossstadtliteratur aus China

von

Von den Schattenseiten des chinesischen Wirtschaftsbooms, von sozialer Kälte und Vereinsamung, erzählen vier bekannte zeitgenössische Autoren. Leung Ping-kwan (Hongkong) verwebt in Die Insel und das Festland auf meisterhafte Weise Kindheitserinnerungen und eine tragische Liebesgeschichte mit poetischen Reflexionen über den Wandel der Zeit. Diesem Wandel drohen gerade auch die Alten zum Opfer zu fallen. So sucht bei Yin Huifen (Shanghai) ein Kreis alter Frauen in einer kleinen Akupunkturpraxis eine letzte Oase zwischenmenschlicher Nähe und damit eine Späte Freude.

Doch dieses Idyll erweist sich als ebenso brüchig wie die Sinnkonstruktionen der Intellektuellen. Halb satirisch, halb melancholisch beschreibt Ge Fei den Verfall eines Literaten, der sich vor der Gesellschaft vollends in Das Schweigen zurückzieht. Ein Sonderling steht auch im Mittelpunkt von Wang Xiaobos 2015: ein renitenter Maler abstrakter Bilder, die niemand versteht. Ein sadistisches Umerziehungslager soll den malenden Triebtäter künstlerisch wie sexuell wieder auf Linie bringen. Selten wurden totalitäre Unterdrückungsmechanismen so unterhaltsam karikiert wie in dieser rabenschwarzen Groteske.

Die Erzählungen Wang Xiaobo, 2015 • Ge Fei, Das Schweigen • Yin Huifen, Späte Freude • Bi Feiyu, Die Silvesternacht • Leung Ping-kwan, Die Insel und das Festland

(Themenheft 2006 der Zeitschrift ORIENTIERUNGEN: Zeitschrift zur Kultur Asiens, hrsg. von Berthold Damshäuser und Wolfgang Kubin, Universität Bonn)