Ost-Märchen

Gedanken und Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit. Berlin, zum 60. Jahrestag der Republik -(für Westler) 7. Oktober 2010

von

Einen Titel habe ich aus einem Witz genommen, und der geht so:

Worin besteht der Unterschied zwischen einem West-Märchen
und einem Ost-Märchen?
Im Westen beginnen die Märchen mit „Es war einmal.“
Im Osten beginnen sie mit den Worten: „Es wird einmal sein.“

Nach zwanzig Jahren kann man im Banne der Ansprachen vor dem Deutschen Reichstag zum 3. Oktober leider nur feststellen: Auch im Osten beginnen
nunmehr die Märchen mit den Worten „Es war einmal.“, und was ein richtiger Ostalgiker ist, der fügt hinzu: „Ach ja, was war das schön.“. Damit die wohlige Erinnerung einen nicht völlig übermannt, habe ich tief in mein Herz geblickt und darüber nachgedacht, ob ich meine Erlebnisse aufzeichnen sollte oder besser nicht. Anonym, damit sich keiner auf den Schlips getreten fühlt, kurzgefaßt, damit man beim Lesen nicht das Gähnen kriegt, charakteristisch und bezeichnend für allerlei Aspekte, die einem als Wessi bei den Ossis so auffiel.
Irgendwie habe ich es geschafft, glaubhaft Ossi zu spielen und nur in den allerseltensten Fällen als Wessi entlarvt zu werden, falls ich mich nicht selber
dazu bekannt habe. Ich war eben der Wolfgang aus der Berliner Richardstraße. (Zur Erläuterung: Vorwendisch gab es drei Richardstraßen im Ostteil und zwei
im Westteil der Hauptstadt).
Die Nachwendezeit habe ich verständlicherweise ausgespart, die kennt man zur Genüge. Die Wendezeit habe ich auchnur gestreift, weil da auf einmal alles
wegrutschte, was man bislang kennen gelernt hatte oder kannte. Mir ist es nicht einmal gelungen, einen Ausreisestempel an der Übergangsstelle Brandenburger Tor zu ergattern, so schnell war die plötzlich dicht!

Ehrlich gesagt: Mir fehlt das Kribbeln bei Einreise in die Friedrichstraße, ob man erwischt wird bei einem Zolldelikt oder nicht. Einreise wie Ausreise standen ja ständig unter dem Damokles-Schwert des Erwischtwerdens. Und was mußte man nicht alles vorbereiten: Zur Antragsstelle stempeln gehen, Geschenke einkaufen. Wunschzettel der Ostfreunde abarbeiten. Diafilm für die Kamera kaufen. Geld bereithalten für den Zwangsumtausch. (Zollbeamten hier bitte weghören!) Sich in der Wechselstube am Bahnhof Zoo Ostscheine gegen DM eintauschen und in der Unterhose, im Ärmelfutter oder BH verstecken. Sich
geduldig in die Schlangen einreihen vor der Paßkontrolle. Hier warten (Visum), da warten (Zoll), dort warten (Geldumtausch bei der Staatsbank). Und erlöst die
Blechtür zur Bahnhofshalle Friedrichstraße zufallen lassen, wenn man alles Aufregende hinter sich hatte.
Und dann in einigen Fällen noch die lieben Anoraks von der Stasi verstohlen im Augenwinkel behalten und spontan Ideen zum Abschütteln der unerwünschten
Schatten entwickeln. Ach ja, und zur Meldebehörde bei den Vopos Ein-und Ausreise abstempeln lassen. Das Leben ist eben ärmer geworden, ohne dieses Kribbeln. Doch, irgendwie fehlt sie mir schon, die traute DDR.

Dr. Wolfgang Kosack