Paul Bonatz gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den bekannten und einflussreichen Architekten in Deutschland. Sein Hauptwerk ist der Stuttgarter Hauptbahnhof (1911–1927), ein seinerzeit Aufsehen erregender Bau der frühen Architekturmoderne, der mit locker gruppierten kubischen Volumen eine Monumentalität des freien Gleichgewichts darstellte. Genau hundert Jahre nach dem vorausgegangenen Wettbewerb, den Bonatz mit einem Entwurf unter dem Motto „Umbilicus Sueviae“ (der Nabel Schwabens) gewonnen hatte, widmete ihm das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt 2011 eine viel beachtete Werkschau.
Fast vier Jahrzehnte lang wirkte Paul Bonatz als Architekturlehrer an der TH in Stuttgart, wo er mit gleichgesinnten Kollegen die von seinem Lehrer Theodor Fischer begründete, handwerklich orientierte „Stuttgarter Schule“ zu einer der wichtigsten Ausbildungsstätten ausbaute. Seine eigenen Bauten bewegten sich zwischen moderater Moderne, Bautradition und Klassizismus. Einen hervorragenden Ruf genossen seine in die Landschaft eingepassten technischen Bauten.
Paul Bonatz war ein liberaler Kosmopolit, was ihn nach 1933 jedoch nicht daran hinderte, trotz aller Zweifel am Nationalsozialismus und an der Maßlosigkeit seiner Architektur, an dessen Repräsentationsaufgaben mitzuarbeiten. Den daraus entstandenen Widersprüchen entzog er sich in der letzten Phase des „Dritten Reiches“ durch die Übersiedlung in die Türkei, wo er wiederum als Architekturlehrer beträchtlichen Einfluss ausübte.
Obwohl Paul Bonatz auch anderswo bedeutende Bauwerke errichtete, wie die Stadthalle Hannover oder das Opernhaus in Ankara, konzentriert sich die Masse seines Werkes auf die Städte und Landschaften im Südwesten Deutschlands. Das Buch „Paul Bonatz. Bauten an Rhein und Neckar“ stellt ca. 30 Bauten vor, die aus einer weit größeren Anzahl noch bestehender Werke des Architekten in dieser Region ausgewählt wurden. In den Fotografien von Rose Hajdu, die zwischen 2009 und 2012 aufgenommen wurden, ist jeder dieser Bauten mit zahlreichen Aufnahmen dokumentiert und durch einen begleitenden Text zweier renommierter Architekturhistoriker erläutert.
Rose Hajdus Bilder zeigen die große Bandbreite der Aufgaben, die Bonatz in Baden und Württemberg realisierte. Das Spektrum reicht von privaten Wohnhäusern über Schulen, von Bibliotheken und Rathäusern bis zu Industrieanlagen und Technikbauten, wie den Staustufen am Neckar. In einem Fall wird der in diesem Band behandelte Raum auf das andere Rheinufer ausgedehnt – mit einem Blick auf das Kunstmuseum in Basel, das zu den besten Schöpfungen des Architekten zählt.
Von den Bonatz-Bauten in der Region sind viele erstaunlich gut erhalten. Jedoch bekommen nicht alle die Pflege, die sie verdienen. So wurde durch den für Stuttgart 21 vorgenommenen Abbruch der Seitenflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs das sorgfältig ausgewogene Ensemble dieses Kulturdenkmals für immer zerstört. Andere Bauten sind durch Planungen gefährdet, wie die Bonatz’schen Neckarschleusen, die für die Umgestaltung des Flusses zur europäischen Wasserstraße umgebaut werden sollen.
Rose Hajdus Bilder erlauben einen Blick auf den aktuellen Zustand des noch vorhandenen Bestands in der Region und öffnen die Augen für die baumeisterlichen Qualitäten dieser Bauten. Die Fotografien zeigen auch zahlreiche bisher unbekannte oder wenig beachtete Innenräume und liebevoll gestaltete Details. Durch die Aufnahmen wird deutlich, dass viele Eigentümer von Bonatz-Häusern ihren Besitz durchaus mit Sorgfalt behandeln und den Wert ihrer Gebäude schätzen und würdigen. Der Band kann dazu beitragen, dass die Bauten dieses Architekten eine bessere Zukunft haben werden als der geschundene Bahnhof.
Die Fotografin und die Autoren:
Rose Hajdu, freie Fotografin mit den Schwerpunkten Architekturfotografie, Denkmalpflege, Archäologie und Kunst. 1978–81 Amtsfotografin des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg.
Dr. Marc Hirschfell, Kunsthistoriker. Referent für Öffentlichkeitsarbeit der Architektenkammer Baden-Württemberg. 1997–2001 Architekturkritiker für die Stuttgarter Zeitung. Co-Autor der Ausstellungskataloge des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt über Paul Schmitthenner und Paul Bonatz.
Dr.-Ing. habil. Wolfgang Voigt, Architekt, Mitglied des Deutschen Werkbundes Hessen. Seit 1997 stellvertretender Direktor am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt. Zahlreiche Publikationen. Kurator von Ausstellungen u.a. über Heinz Bienefeld, Ernst May, Helmut Jacoby, Paul Schmitthenner, Dominikus Böhm, Gottfried Böhm und Paul Bonatz.
- Veröffentlicht am Dienstag 7. Oktober 2014 von Wasmuth, E
- ISBN: 9783803007544
- 184 Seiten
- Genre: Architektur, Kunst, Literatur, Sachbücher