Polypen

Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik /On a case of intensified refugee politics. Ein Bildzyklus. Gespräche und Texte /An image cycle, conversations and texts

von

TEIL I / PART I: SIEV-X – RECHERCHE / RESEARCH
Einleitung/ Introduction
MAN KANN DIESE POLITIK NICHT AUFRECHT ERHALTEN UND GLEICHZEITIG EINE DEMOKRATIE BLEIBEN
Telefongespräch mit dem ehemaligen australischen Regierungsmitglied Tony Kevin
ONE CANNOT MAINTAIN THIS SORT OF POLICY WHILE CONTINUING TO BE A DEMOCRACY
Telephone conversation with Tony Kevin, former member of the Australian government

NACHTRAG AUS GENF, JUNI 2004
POSTSCRIPT FROM GENEVA, JUNE 2004

LAMPEMEDUSA
Telefongespräch mit dem Politikwissenschaftler Paolo Cuttitta
LAMPEMEDUSA
Telephone conversation with political science scholar Paolo Cuttitta

WAS MICH THEORETHISCH INTERESSIERT, IST DER ZUSAMMENHANG VON GEWALT, TRAUMATISIERUNG UND DEM VERLUST DER SPRACHE
Gespräch mit der Philosophin und Journalistin Carolin Emcke
WHAT I AM THEORETICALLY INTERESTED IN IS THE CONNECTION BETWEEN VIOLENCE, TRAUMATIZATION AND THE LOSS OF SPEECH
Conversation with philosopher and journalist Carolin Emcke

TEIL II / PART II:

TRIPTYCHON / TRIPTYCH

Bildessay – aus den drei Ausgangsbildern des SIEV-X Projekts
Pictorial essay – on the three original images for the SIEV-X project

DAS FLOSS DES HISTORIEN BILDES
THE RAFT OF THE HISTORICAL IMAGE
Clemens Krümmel

TEIL III / PART III
NIKE – EINE SKIZZE / A SKETCH

ZUR KONSTRUKTION MEDIALER FREMDBILDER
Fortsetzung des Gespräches mit Carolin Emcke
ON THE CONSTRUCTION OF MEDIA IMAGES OF THE OTHER
Continued from the Conversation with Carolin Emcke

Einleitung

I
Das Kürzel „SIEV“ steht für „Suspected Illegal Entry Vessel“. Es steht in der bürokratischen Sprache des australischen Grenzobservierungs-Programms für ein Flüchtlingsboot, das mit militärischen Mitteln der Luftraum- und Seeüberwachung internationaler und australischer Gewässer vor Christmas Island erfasst wurde.
Das „X“ im Titel dieses Buches, „SIEV-X“, ist eine weitergehende Klassifizierung innerhalb dieses Systems, die bedeutet, dass ein Boot durch das engmaschige Kontrollnetz hindurchgeschlüpft ist. Das namenlose Boot, das am 18. Oktober 2001 von Indonesien aus startete, erreichte mit den 397 Flüchtlingen an Bord kein australisches Festland. Stattdessen sank es, und nur 44 Menschen überlebten.
Als „SIEV-X“ Anfang 2002 erstmals öffentlich wurde, setzte es sich als Name für dieses namenlose Boot durch, zugleich aber auch als ein Sinnbild für die rigorosen Methoden in der restriktiven Flüchtlingspolitk unter Premierminister John Howard, die damals verstärkt diskutiert wurden.

II
Im Januar 2002 – vor dem Auftauchen des Kürzels SIEV-X – begleitete die folgende Einleitung die im zweiten Teil, dem Mittelteil des Buches, dokumentierten drei Bilder. Eines betraf das Boot, das am 19. Oktober sank: „Peter Weiss untersucht in seinem Roman ‚Ästhetik des Widerstands‘ die Möglichkeiten, wie und ob überhaupt die Kunst des Bürgertums für das Selbstverständnis und den politischen Kampf der Arbeiterklasse verwendbar ist. Dabei wird an den Bildern ‚Die Freiheit auf den Barrikaden‘ von Delacroix und ‚Das Floß der Medusa‘ von Géricault exemplarisch der Unterschied zwischen operativer und idealistischer Ästhetik erklärt. Die beiden Bilder hängen noch heute am selben Platz im Louvre. Dierk Schmidt nimmt diese Platzierung auf, aktualisiert jedoch die Sujets. Idealistisch ist der Nike-Clip, in dem das brasilianische Fußballteam kickend sämtliche Sicherheitssperren eines Flughafens überwindet. Operativ wäre die Darstellung einer der zahlreichen Havarien eines überladenen Flüchtlingsschiffs und die Platzierung dieser Darstellung in den Salons der Innenministerien.“
Die hier erwähnten Bilder und die Frage nach ihrer Methode, zwischen operativer und idealistischer Ästhetik, begleiten die Texte und Gespräche des ersten und dritten Teils. Im Gegensatz zum ersten Teil bleibt der dritte Teil Skizze, oder geradezu Anlage, – Anknüpfungspunkt für eine weitere Publikation über Interessen an Bildern und Bildpolitiken.
Hier geht es nun um die Frage, welche Möglichkeiten der Wirklichkeitsreflexion die Produktion künstlerischer Bilder bietet bzw. ob und wie über das Medium der Malerei ein „realistisches“ Bild hergestellt werden kann – in diesem Fall ein Bild von SIEV-X. Diese Linie wird gekreuzt von einer zweiten Linie, die sich zwischen dem Gegensatz operativer und idealistischer Ästhetik innerhalb des Begriffes des Historienbildes spannt, – visualisiert in der beschriebenen Louvre-Konstellation. Ästhetischer Schnittpunkt beider diskursiver Linien ist ein in beiden Fällen gegebenes hölzernes, 19 m langes und in seinen Implikationen abgründiges Vehikel auf hoher See.

III
Was bedeutet es, sich in dieser großen räumlichen Distanz – von Europa aus gesehen ziemlich genau auf der anderen Seite des Globus – mit der Rekonstruktion eines Ereignisses im Indischen Ozean zu befassen? Was heißt es überhaupt, wenn man sich von Europa aus mit einem verhinderbaren Bootsunglück und mit der verschärften australischen Flüchtlingspolitik beschäftigt? Statt Christmas Island hätte es auch Lampedusa im Mittelmeer sein können. Eine ganz andere ortsbezogene Recherche wäre möglich und nötig gewesen. Vielleicht auch das ein Zeichen der Zwangsläufigkeit der im Fall SIEV-X sich abbildenden „verschärften“ Flüchtlingspolitik, war ein ähnliches Boot im Mittelmeer, vor der Insel Lampedusa aufgebracht worden – auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Sinken von „SIEV-X“.
Kann in der räumliche Distanz auch ein Vorteil liegen? Die Involvierung ineine „foreign affair“ ist abstrakter, die Hürden vor einer konkreten Kontaktaufnahme zu mittelbar oder unmittelbar Beteiligten komplizierter. Um bei Recherche-gesprächen zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, bedurfte es
unzähliger, zeitraubender Anläufe zur Kontaktaufnahme. Mein eigener Impuls war vor allem das ungläubige Staunen, dass es bei der Dimension dieses „Unglücks“ nicht ein einziges Bild des betroffenen Bootes, weder seinen Namen noch die der ertrunkenen Opfer geben sollte.
Die Frage nach den Möglichkeiten des „politischen Bildes“ wird hier noch einmal ganz grundsätzlich gestellt, und das ist auch die Frage nach seiner Produktion, nach dem Verhältnis von Text und Bild, nach der Methodologie der Recherche und der „künstlerischen Umsetzung“. Darf es ein unterschiedliches Bildrecht für Handelnde und Verhandelte geben? Wie kontextualisiert man ein Bild, wie das ihm zugrundeliegende Konzept, ohne in Didaktizismus zu erstarren? Wie positioniert sich eine solche künstlerische Produktionsweise in einem europäischen, warum überhaupt in einem Kunstzusammenhang? An wen adressiert? Was heißt hier „operativ“? Erst mit der Beantwortung dieser Fragen wird eine Einschätzung möglich, die eine behauptete Politizität gegen eine faktische Wirksamkeit abwägt.
Das sind Fragen, die auch in jedes der Gespräche im ersten Teil eingegangen sind. Die zuerst für die ersten Bilder des Mittelteils nicht mögliche Recherche ist inzwischen nachgeholt. Das ist einerseits Nachvollzug, zugleich aber auch eine fortgesetzte Überprüfung des ersten Versuchs zu einem Bild zum Flüchtlingsboot vom 19. Oktober 2001. Erstaunlich bleibt dabei die Renitenz, mit der die Ergebnisse des früheren Entwurfes sich gegenüber den aktualisierten Recherchen halten.