Sammlung Urs Engeler Editor

Gedichte. Amerik./ Dt.

von

Kompromißloser Freiheitsdrang, Rebellion gegen das
Establishment, gegen weltliche und religiöse Autoritäten
und gesellschaftliche Konventionen, bringen
in Millays Leben ein hohes Maß jener Formlosigkeit,
der ihr Dichten als Ordnungskraft beikommen
will. Sie ging hetero- und homosoziale Verbindungen
ein, in denen sich Sexualität, emotionale Zuneigung
und intellektuelle und dichterische Verbundenheit
auf komplexe Weisen überlagern konnten. Von ihrem
Ehemann ist zu Millays Affären die Aussage
überliefert, er toleriere jede Freiheit, die sich seine
Frau nähme, solange dies ihrer dichterischen Kreativität
nicht abträglich sei. Mindestens so wichtig wie die Weite, Unkonventionalität und Intensität der Erfahrung war Millay deren Überführung in gut gemachte Gedichte. Dem Mentor Arthur David
Ficke antwortet sie jedoch irritiert auf die Anfrage, ob eine Zeile aus Renascence literarischen Ursprungs sei: ‚I never get anything from a book.‘ Wie T.S. Eliot es im Essay Tradition and the Individual Talent vom Dichter seiner Zeit fordert, hat sie die literarischen Werke der Vergangenheit nicht vor sich auf dem Schreibtisch liegen, sie hat sie ‚in ihren Knochen‘. Bilder von
Robert Herrick, Reimklänge von Marvell und Tennyson,
emotionale und argumentative Rhythmen von Renaissance-Sonetten hat sie der eigenen Imagination
ebenso anverwandelt wie das Lokalkolorit und das
Alltagsidiom ihrer neuenglischen Heimat. Das Ergebnis
ist eine Dichtung, die mit einer unverkennbaren
persönlichen Stimme spricht und im Ganzen wie im
Detail dem Leser zumeist unmittelbar verständlich
ist, die sich aber zugleich dem traditionsbewußten
Lesen auf weite literarische Welten hin öffnen kann.