Die Erzählungen und Gedichte dieses Buches erschienen von 1962 bis 2012 in ver-schiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Hauskalendern. Einige wurden im Zuge von Lesungen auch nur auf CD festgehalten. Beim Durchsehen des Materials entstand der Wunsch, eine kleine Auswahl zu treffen. Manche Geschichten wurden speziell für Kinder geschrieben und auch in Kinderkalendern gedruckt. Andere richten sich ganz an Erwachsene. Der Autor hofft, die Leser mit seinen Erzählungen zum Schmunzeln oder auch zum Nachdenken zu bringen. Wenn das gelingt, hat er die größte Freude …
Leseprobe
AUF DER REEPERBAHN
Selbst auf der Reeperbahn, wo auch seltsame Gestalten nicht von den Passanten beachtet werden, fiel dieser Mann auf. Einmal stand sein asketisch durchgeistigtes Gesicht, auf dessen Haut sich keinerlei Sonnenbräune zeigte, in seltsamem Gegensatz zu den braungebrannten Matrosen, denen er begegnete, ganz zu schweigen von den Schwarzen und Gelbhäutigen. Dann war es aber auch die hagere Gestalt des Mannes, die keinerlei Muskeln er-kennen ließ, während viele Männer hier stolz ihren Bizeps mit den Tätowierungen schwellen ließen. Und schließlich war es der etwas abgetragene schwarze Anzug mit dem weißen Hemd und der schmalen Krawatte, gekrönt durch einen breitkrempigen schwarzen Hut. Der Mann schien aus einer anderen Welt zu kommen, und in der oft dichtgedrängten Straße wich ihm jeder unwillkürlich aus, ohne hinterher sagen zu können, ob es Ehrfurcht, Schrecken oder Scheu war.
Der Mann aber ging wie in Trance an den Fenstern in der Hermannstraße vorbei, sah dort die halbnack-ten Mädchen in den Fenstern sitzen, schien nicht ihre schamlosen Reden und die zotigen Antworten der Männer auf der Straße zu hören. Mit kleinen Trippelschritten bewegte er sich von Fenster zu Fenster und blieb schließlich an einer Stelle stehen, wo sich ein Mädchen mit schwappenden Brüsten aus dem Fenster lehnte: „Na, Süßer, wie wär’s mit uns beiden?“
Der Mann sah auf, als werde er erst jetzt dieser Frau gewahr. Im Tageslicht sah sie seltsam unwirklich aus. Dicke Schminke entstellte ihr Gesicht mehr, als dass sie ihre Krähenfüße verbarg. Ihre Kleidung sah aus, als sei sie eben aus ihrem Bett gekommen, was ja auch wirklich der Fall sein mochte. Ihre halblangen blond gefärbten Haare brauchten baldigst eine Wäsche. Rauh erschien ihm ihre Stimme, wie das bei Frauen ist, die viel rauchen und regelmäßig scharfe alkoholische Getränke zu sich nehmen.
Jetzt beugte sich die Frau noch etwas mehr aus dem Fenster zu ihm hinunter. Durch seine Nickelbrille sah er ihre riesigen schwappenden Brüste, wurde der Brustwarzen gewahr.
„Na, wie ist es, Süßer, willst du zu mir kommen?“ rief die Frau. Er nickte und trat in den Hauseingang, wobei er seltsamerweise seinen Hut abnahm. Sein Haar war tiefschwarz, allerdings so dünn, dass die Kopf-haut durchschimmerte. Im Gang fiel ihm ein, dass er die Frau gar nicht nach ihrem Preis gefragt hatte, wie das die anderen Männer auf der Straße ganz selbstverständlich getan hatten. Er ging die einzig vorhandene Treppe in das obere Stockwerk. Er hörte, wie oben eine Tür geöffnet wurde. Wie im Traum ging er nach oben.
Der Mann war von Köln nach Hamburg gefahren in der Hoffnung, niemand werde ihn hier kennen. Denn er tat etwas in seinen Augen und denen seiner Brüder entsetzlich Sündiges: Er ging zu einer Hure. Er ging zum ersten Mal zu einer Frau.
Der Geistliche hatte Theologie und Philosophie in Berlin, Marburg und Nymegen (Holland) studiert und brachte bei den Examina so glänzende Leistungen, dass er unmittelbar nach dem Abschluss seiner Studien Lehrer am Ordensgymnasium der Dominikaner wurde. Mit 34 Jahren ernannte ihn sein Orden zum Professor für systematische Theologie und Dozent der Philosophie an der namhaften Albertus-Magnus-Akademie in Köln. In den guten Fachverlagen erschienen seine Bücher, in akribisch sauberer Schrift ohne irgendwelche Korrekturen in die Druckereien gegeben. Er führte darin eine internationale Korrespondenz, sprach neben dem selbstverständlichen Hebräischen, Griechischen und Lateinischen noch vier neue Sprachen perfekt. Was in seinem Lebensbereich möglich war, hatte er damit erreicht.
- Veröffentlicht am Dienstag 9. Februar 2016 von BS-Verlag-Rostock
- ISBN: 9783867853590
- 210 Seiten
- Genre: Belletristik, Erzählende Literatur