Sucher nach sich selbst

Roman

von

„Vor einiger Zeit legte Albert Steffen einen ‚Rechenschaftsbericht‘ (in ‚Goethes Geistgestalt‘) ab, in dem er würdig und ernst das Ziel seiner künstlerischen Tätigkeit absteckte. Er schrieb darin, daß er von vorneherein verzichte, so wie die ‚gelobten Schriftsteller‘ zu erzählen. ‚Warum? Es wäre das allerleichteste für mich. Aber ich müßte dabei das Allerschwerste aufgeben: die Entwicklung zu einem höheren Menschentum, mein Gewissensverhältnis zum Geist.‘ Daher bestimmt sein Werk nicht das sinnliche Element, sondern das sittliche, und dies ’nicht preiszugeben, sondern zu mehren,‘ sieht er als die vornehmste Aufgabe des Dichters an.
Unter diesem Aspekt ist sein jüngster Roman ‚Sucher nach sich selbst‘ ein notwendiges und erlösendes Buch. Es erzählt wie ein dem alten Osten zugewandter Gelehrter, Verächter der abendländischen Zivilisation, sich das Leben nimmt, weil er an der Zukunft Europas verzweifelt und das eigene Dasein als sinnlos empfindet. Sein weltflüchtiger Geist wirkt nach dem Selbstmord aufwühlend weiter und verbindet drei verschiedenartige Menschen: seine Tochter Klarissa, die Tänzerin Zoe, die er geliebt hat, und den Redaktor Lotze zu einer edlen Gemeinschaft des Geistes. Durch vertiefte Erkenntnis gelingt es ihnen, sich den finsteren Todesmächten entgegenzustemmen und ihr Leben rein und groß zu gestalten. Der Grundgedanke des prachtvollen Romans ist also der, daß alle kulturbegründenden Kräfte zuerst im einzelnen Menschen erkannt und wachgerufen werden müssen, bevor sie für die Allgemeinheit nützlich werden können.
Als Kontrastfiguren ragen Lotze, der alle Erlebnisse durch die Sinne, besonders das Auge, aufnimmt und durch Vertiefung des äußeren Eindrucks zu einer geistigen Erkenntnis gelangt, sowie Klarissa hervor. Dies ist ein gescheites, hellseherisches Mädchen, das fast alles, was ihm zustößt, schon als Vorgefühl oder Traumwirklichkeit durchmacht und, wenn es seine sittliche Empfindung verletzt, von vornherein abwehrt. Während der weibliche Teil also von innen nach außen dringt, wählt sein maskuliner Partner den umgekehrten Weg. Beide treffen sich aber in der entscheidenden Stunde, und Zoe spricht als dritte im Bunde das erlösende Wort: ‚Es gibt nur ein Glück: andere zu beglücken.‘
Daß Albert Steffen ein kraftvoller Gestalter ist, bezeugt sein Roman beglückend. Erinnern wir nur an die kurze Varietészene gleich zu Beginn des Buches, an Lotzes Schilderung seiner Jugend, in die wohl autobiographisches Material gewoben ist, an die holde Liebesszene auf Seite 137f. oder an das meisterhaft gerundete Schicksal eines Dienstmädchens und der Tänzerin Zoe. Sie enthalten den blutvollen sinnlichen Reichtum des Lebens, ohne ins Gemeine zu fallen. Eine unendlich reine, saubere Luft ist um sie, ein Adel der Gesinnung wie kaum in einer anderen zeitgenössischen Dichtung.
Mit rührender Zartheit des Erfahrenen und Leidenden nimmt Albert Steffen die entscheidenden Probleme der Menschheit vor, und was er z.B. über Ehekonflikte und Liebe schreibt, ist so schön, gütig und von bürgerlicher Engherzigkeit frei, daß man sich vor solcher Seelenhaltung nur verbeugen kann. Gewiß läßt sich über den Bau des Romans da und dort streiten; etwa, ob die „kleinen Mythen von Leuten, die neue Stiefel bekamen,“ unbedingt hierher gehörten oder ein schwerverständliches Gedicht den Ausklang bilden müßte.
Aber ist das neben der Meisterschaft des Geistes in der die ‚Sucher nach sich selbst‘ erstarken nicht sehr nebensächlich?“ (Carl Seelig im „Tagesanzeiger“, Zürich, 24. Dezember 1931).