Theorie und Praxis der Interpretation

Zur Theorie und Praxis des Journals

von

Der französische Literaturwissenschaftler Philippe Lejeune, Jahrgang 1938, hat ein klares Forschungsprofil. Seine Leidenschaft gilt dem „gewöhnlichen Schreiben“ („écritures ordinaires“, wie man es in Frankreich nennt). Er wandte sich zunächst der Autobiographie zu und publizierte seine grundlegende Studie „Der autobiographische Pakt“, die auch hierzulande für Furore sorgte. Später widmete er sich dem privaten Tagebuch, das er zunächst abgelehnt hatte, da er es für unförmig und monoton hielt. Dann aber entdeckte er die eigentliche Qualität des Tagebuchs: „es ist ehrlich, bescheiden, kommunikativ und reich an kreativen Möglichkeiten“.

Seit nunmehr dreißig Jahren erforscht Lejeune Tagebücher, und er sammelt sie auch, damit sie der Welt nicht verlorengehen. Er hat dafür eine Gesellschaft gegründet, die Tagebüchern Asyl gewährt und sie gelegentlich sogar ausstellt. Ein wunderbarer Katalog ist daraus hervorgegangen.
Seine Aufsatzsammlung „Liebes Tagebuch. Zur Theorie und Praxis des Journals“ ist sehr persönlich gehalten: Lejeune erzählt darin von geistlichen Tagebüchern, von Mädchentagebüchern, vom Tagebuch der Anne Frank. Liebevoll verteidigt er Annes Vater, Otto Frank, gegen seine Kritiker.
Das Tagebuch, so die Überzeugung des Gelehrten, ist ein demokratisches Medium, das allen offensteht: „Es ist eine außergewöhnliche Kreativwerkstatt und ein Handwerk.“ Es strukturiert den Tag und kennt vielerlei Funktionen: „Erinnerungen festhalten, lernen abzuwägen, seinem Leben Form zu geben, eine Aufgabe zu begleiten, schreiben zu üben.“

Echte Tagebücher sind anschaulich und von der jeweiligen Person ebenso wie von ihrer Entstehungszeit geprägt; nicht selten sind sie ein ästhetisches Vergnügen, reich an Bildern, Objekten und Schriftzügen. Sie verändern sich über die Jahre, werden geläufiger (und teils auch geschwätziger), und manches Tagebuch kennt sogar einen Mitleser, einen guten Freund beispielsweise, vor dessen Augen nicht einmal die intimste Gattung versteckt wird. Hören wir die sechzehnjährige Pauline Weill, die zwar noch keinen Mann gefunden hat, aber auf gut Glück schon für ihn Tagebuch führt: „Ein Tag wird kommen, und dieser Tag ist vielleicht gar nicht fern, da ich das, was ich hier schreibe, meinem Lebensgefährten zeigen werde, dem, der dazu bestimmt ist, mit mir mein Glück und mein Leid zu teilen. Er wird dann sehen, daß ich ihn, ohne ihn zu kennen, immer schon geliebt habe und daß all die Illusionen, all die Hoffnungen, die ich bis heute gehabt habe, diesem unbekannten Wesen galten.“ Ihr Eintrag vom 12. Januar 1858 liest sich auch nach 150 Jahren so frisch und eindrucksvoll wie am ersten Tag.